Zeitgemäße Theorie: Ein neues Standardwerk?

Der 1976 geborene Walead Beshty ist ein Künstler, der hauptsächlich fotografisch arbeitet, bisweilen aber auch übergangslos in den Bereich der Objektkunst wechselt. Er gilt in der Gegenwartskunst in den letzten Jahren als einer der intellektuell interessantesten, dementsprechend begehrtesten Vertretern einer neuen gesellschaftskritischen Kunst. Dass der bildende Künstler sich zugleich auch in verschiedenen Textformen geäußert hat, entspricht seinem breiten geistigen Horizont.

Nun hat Beshty einen Sammelband zur „Picture Industry“ zusammengestellt, der den etwas kokett anmutenden Untertitel „A Provisional History oft he Technical Image 1844 – 2018“ trägt  – ein veritabler Buch-Klotz im Umfang von 864 Seiten. Produziert wurde er aus Anlass eines gemeinsamen, dreiteiligen Ausstellungsprojektes der LUMA-Stiftung Arles und dem Hessel Museum of Art des Bard College in Annadale-on-Hudson, Upstate New York, verbunden durch die Schweizerin Maja Hoffmann.

Diese wenigen nackten Daten lassen schon zu Recht vermuten, dass es sich hierbei nicht nur um ein äußerst anspruchsvolles Unterfangen eines Künstlers handelt, der den Band auch durch einen längeren, nicht eben leicht lesbaren, aber extrem reflektierten Beitrag zum zeitgemäßen Begriff und gegenwärtigen Zustand des fotografischen Bildes einleitet (21-33). Danach wird der Leser des klein und eng gedruckten Buches von einer Text-Maße unterschiedlicher Autoren erschlagen, die klar macht, dass man dieses Buch wohl kaum sukzessiv gelesen wird, sondern sich eher als Steinbruch bei der Auseinandersetzung mit Detail-Fragestellungen eignet. Dabei handelt es sich nicht um den erneuten Aufguss von bereits bekannten, vielfach zitierten Beiträgen zur Foto-Theorie, sondern auch um Texte, die nicht alle dem gängigen Kanon entsprechen, so z.B.

Hayden und Jacksons Einleitung zur Fotografie von Indianern aus dem Jahre 1877 (112f.) oder Bertillons Überlegungen zu Signalen von 1896 (179). Freilich kommen auch Benjamin, Kracauer, Cavell, Damisch oder Flusser zu Wort. Die Mehrzahl dieser erstaunlicherweise nicht chronologisch geordneten Beiträge datiert allerdings aus der jüngeren Gegenwart und auch hier trifft man auf Beiträge, die bislang eher nur Spezialisten bekannt sein dürften, wie z.B. Alexander Galloways 2006 publizierte Ausführungen zum Protocol (668-670) oder Darby Englishs Überlegungen zu Fotografen Emmett Till (364-371) bis hin zu Gesprächen (mit Stan Douglas, Martha Rosler, Hito Steyerl u.a.), die ausschließlich für diesen Band entstanden sind. Erweitert wird die Text-Wüste um diverse Bildbeiträge, die nicht illustrativ, sondern eher ergänzend gemeint sind.

Wie schon die wenigen zitierten Namen erkennen lassen, profiliert „Picture Industry“ – obwohl in englischer Sprache publiziert – nicht eine ausschließlich angelsächsische Perspektive, sondern lässt eine klar westliche Zuspitzung der Thematik erkennen, verhebt sich also nicht mit kolonialistischer Attitüde an einem globalen Anspruch, der suggeriert einen gottesähnlichen Überblick des Denkens einnehmen zu können. Muss man diesen Band also näher anschauen, in vermeintlich anachronistischer Manier gar für das ohnehin schon gequälte Bücher-Regal anschaffen? – Ein klares Jahr. Die erstaunlich geringen Kosten von 50 sind gut investiert, da wir es hier um mit einer gegenwärtigen Lesart einer Kunstgeschichte der Fotografie zu tun haben, die sich zugleich als Technikgeschichte des Bildes versteht, aber darauf nicht reduziert bleibt. Der unvermeidbare, insofern auch redundante Vorwurf einer erneut subjektiven Kanonisierung, der Beshty im Hinblick auf die Ausstellung gemacht wurde, (https://www.artinamericamagazine.com/reviews/picture-industry/), greift auch im Falle des Buches, das wohl gemerkt nicht als Ausstellungskatalog fungiert, nicht. Die Breite des sich hier offenbarenden Horizontes wird einen Steinbruch eröffnen, in dem wir in Zukunft vielleicht häufig auf den Mahlsteinen der Theorie klopfen werden.

Walead Beshty (Hrsg.), Picture Industry: A Provisional History of the Technical Image, 1844-2018, Zürich: JRP Ringiert 2018

 

Stefan Gronert

…ist Kurator am Sprengel Museum Hannover

 

 

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