Blick zurück ins 21. Jahrhundert: Peter Geimers Text-Sammlung der neueren Foto-Theorie

Gibt es gerade eine Theorie-Renaissance? Oder war die sowieso schon immer – wenn auch oft nur latent) ein heißes Eisen? Die Vermutung drängt sich auf, weil soeben zwei dicke Überblicks-Bände zum Thema erschienen sind: Zum einen der lapidar „Kunsttheorie“ bezeichnete Band von Hubert Locher. Er spannt sich von der Antike bis zur Gegenwart und wird im auktorialen Stil kompetent unds chön chronolgisch erzählt – ein gewichtiges Weihnachtsgeschenk!

Und eine andere, kaum leichtere Anschaffung, der unseren Foto-Interessen inhaltlich natürlich noch viel nähersteht, sollte der fünfte Band der fundamentalen Reihe „Theorie der Fotografie“ sein, die im Schirmer Mosel Verlag erschienen ist. Sie wurde bekanntlich von Wolfgang Kemp 1979–1983 mit drei Bänden eröffnet und von Hubertus von Amelunxen im Jahr 2000 fortgesetzt. Wer sich im deutschsprachigen Raum in diesem Diskurs bewegt, MUSS – da gibt es überhaupt keine Ausreden – diese Bücher in der Nähe haben. Ob sie aber in jeglicher Hinsicht gelungen sind, sollte man dennoch fragen (dürfen).

Den Herausgeber des neuen Bandes braucht man zumindest im Kontext dieses Blogs nicht vorstellen, muss allein an seinen eigenen Band Theorien der Fotografie zur Einführung (2009) erinnern. Während Geimer damals einen konzentrierten Überblick vermittelte, fungiert er nun als selektierende Autorität über bereits andernorts publizierte Beiträge Dritter – ein nicht minder schwieriges Unterfangen. Die neue Anthologie definiert die Jahre 1995-2022 als historischen Rahmen, verspricht also indirekt eine veritable Übersicht über die Fototheorie des 21. Jahrhunderts. Und tatsächlich gehen nur drei der insgesamt 45 von Geimer ausgewählten Beiträge internationaler Autor*innen auf das ausgehende 20. Jahrhundert zurück. Der Rest ist jüngeren Datums und, das sei an dieser Stelle lediglich angemerkt, dürfte in nicht wenigen Fällen überraschen. Ebenso überraschend und auch nicht eigens thematisiert ist der gewählte zeitliche Rahmen von 1995 bis 2022 – historische Gründe dafür kann man nicht wirklich erkennen. Aber selbstredend existiert bei einer Reihe auch eine gewisse Pragmatik der Fortsetzung, die nicht enden wird oder sollte. Aus diesem Grund wirkt es auch etwas kokett, wenn Geimer später im Buch an der Medienspezifik des Fotografischen zweifelt und meint: „Im Jahr 2040 wissen wir, ob diese Anthologie zur Theorie der Fotografie einen Band VI erfordert oder nicht.“ (S. 334)

Kommen wir also zur Auswahl der Beiträge: Da mir der Themenbereich selbst nicht ganz fremd ist, wage ich die vielleicht selbst desavouierende Behauptung, dass man sicherlich eine ganze Reihe von Beiträgen hier erstmals lesen wird – z.B. Rubinstein, Müller-Helle oder der an vergleichsweise an entlegener Stelle publizierte Beitrag von Stiegler. Genau dies ist durch die unvermeidbare und als solche auch reflektierte (S. 9-14) Subjektivität der Sichtweise des Herausgebers bedingt. Dass es in diesem Zusammenhang auch einige wenige (vor allem „literarische“) Texte gibt, deren Lektüre nicht zwingend notwendig erscheinen, ist deshalb auch unvermeidbar.

Nimmt man die Auswahl der Beiträge von einer anderen Seite unter die Lupe, so fällt auf, dass 19 Beiträge von deutschen Autor*innen stammen – ob das repräsentativ ist, sei dahingestellt, schmeichelt aber sicherlich dem Selbstbewusstsein der hiesigen Szene. Und vielleicht gibt es in Frankreich und seiner einst führenden Kultur des theoretischen Denkens über Fotografie nach Didi-Hubermann und Rancière ja wirklich keine zentralen Beiträge mehr…? Wer in Paris sitzt, dem darf man die Kompetenz für dieses Urteil zutrauen.

Wie auch immer, betrachten wir die von Geimer gewählte inhaltliche Strukturierung der Textsammlung: Der Herausgeber hat sieben Kapitel gebildet, die – wie stets in diesen Bänden – von ihm auf zwei bis drei Druckseiten eingeleitet werden. Sodann, auch hier hält er sich an die Vorgaben, wird jeder einzelne Text noch einmal vorab auf einer halben Seite charakterisiert – bisweilen so prägnant, dass die folgende Textlektüre fast schon überflüssig wird. Doch kommen wir zur Sache selbst, den Inhalten: das erste Kapitel versammelt Texte zur Theorie nach den wirkungsmächtigen Leitfiguren Pierce und Barthes. Es folgt ein Kapitel zu den Kontinuitäten und Diskontinuitäten von analoger und digitaler Fotografie. Das dritte Kapitel blickt auf das Medium im Kunstkontext. Anschließend folgen – vielleicht weniger trennscharf Kapitel zur sozialen (4. Kapitel) und politischen Dimension (5.) der Bilder. Abschließend Texte zum Kontext von Social Media, bei denen die Frage, ob es sich überhaupt noch um Fotografie handelt, leider nicht gestellt wird. Und zu allerletzt geht es um das fotografische Archiv, was vor ein paar Jahren auch einmal ein modisches Thema war.

Man muss im Rahmen dieser knappen Buchvorstellung nicht ins Detail gehen, um das eingangs geäußerte Pauschalurteil zu wiederholen: Diesen Band muss man haben! Und man wird ihn in den kommenden Jahren im Stile eines Lexikons (zur Erinnerung: das war so etwas: https://de.wikipedia.org/wiki/Lexikon) immer wieder einmal aus dem keineswegs staubfreien Regal ziehen, wenn man sich erinnern mag, worum sich die Diskussion über Fotografie zu Beginn des 21. Jahrhunderts gedreht hat.

Stefan Gronert

…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover

 

Peter Geimer (Hrsg.), Theorie der Fotografie V: 1995 – 2022, München: Schirmer Mosel 2023, 456 S., 58,- €

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