Kontexte des Ikonischen. Zur Differenzierung der Natur fotografischer Bilder

Im März 2020 veröffentlichte die Presseagentur dpa eine Fotografie, die drei bekannte PolitikerInnen während des Fluges über ein Krisengebiet entlang die griechisch-türkischen Grenze zeigt. Handelt es sich hier nun um eine aktuelle Ikone, um einen zeitlosen Kontext oder um eine noch nicht anerkannte Form von Kunstfotografie?

(Das Bild mussten wir aus urheberrechtlichen Gründen leider entfernen. Man findet es im Internet u.a. unter dem link: www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-griechenland-tuerkei-von-der-leyen-1.4829832))

Es gibt, so erklärte vor Jahren Hans Belting, „keine richtige Art und Weise Kunst zu sehen“, sondern nur sich ändernde Fragen, die an Kunst gerichtet werden (Hans Belting, Das Werk im Kontext. In: Kunstgeschichte. Eine Einführung, hrsg. v. dems. u.a., Berlin 2003, S. 229). Dieser Sachverhalt gilt entsprechend auch für die Fotografie und speziell für die sogenannte künstlerische Fotografie. Ist es heute angemessen, die künstlerische Fotografie als einen zentralen Diskurs der Fotografie zu betrachten oder müsste nicht vielmehr die die heute spürbare Differenzierung von unterschiedlichen Theorien zur Fotografie nicht auch gerade den Topos der künstlerischen Fotografie verändern?

Heute, unter dem Einfluss der sozialen Medien und der durch sie bewirkten Veränderung der Effekte und Rückwirkungen ihrer veröffentlichten Kommunikation lässt sich etwa Roland Barthes provozierend einseitig geäußertes Verdikt über die Kunstfotografie – über den Kontext ikonischer Bildtraditionen im Allgemeinen – genauer rekonstruieren: Ein fotografisch erzeugtes Bild, das im Laufe einer Zeit zur Ikone wurde oder wie heute nicht selten kurzerhand gleich als Ikone produziert wird, fragt heute sinnvollerweise nicht mehr primär danach, ob es als künstlerische Fotografie oder als nicht-künstlerische Fotografie funktioniert. Diese Differenz erweist sich heute als ein historisches, aber nicht mehr unbedingt relevantes Muster gegenwärtiger (Foto-)Theoriebildung. Die relativ enge und die Fototheorie sehr lange behindernde Orientierung am vorausgesetzten Kunststatus eines fotografischen Bildes wird heute durch die allgemeinere Frage nach einer unbestimmten ikonischen Natur des Bildes erweitert – die Bestimmungen neuer, veränderter Funktionen von (Kunst-)wahrnehmung werden heute durch systemische Fragen nach eher reflexiven, formalen Differenzierungsformen ersetzt.

Ein ikonisches Bild oder eine ikonische Fotografie orientiert sich immer nur an bereits überlieferten und bekannten Erwartungen, die wir mit bestehenden Kunst- und Bildvorstellungen und ihren dazugehörigen kulturelle Werten verbinden: sie bestätigen diese oder nicht. Oder anders gesagt: Sie stellen genau die Zweifel, die heute zunehmend an diesem Ordnungsmuster bestehen, öffentlich zur Diskussion. Derartiger Zweifel an Gesichertem hält Betrachter*innen als heutige Bild- und Theoriekonsument*innen ausreichend wach.

Ikonen sind an sich selbst gesteigerte Bilder – indem sie als Ikonen an alte Erfahrungen des scheinbar Zeitlosen, des Bedeutungsvollen und des Unvollständigen anknüpfen. Sie zerstören dabei nicht Kontexte, die sie aktivieren, sondern verwandeln ihrerseits den Kontext, den sie erzeugen, in das Problem ihrer eigenen Darstellung und Darstellbarkeit. Die Frage nach dem Kunststatus wird dabei als Frage und Problem zwar mitgeführt –  nicht mehr aber als eine zu bestätigende Größe vorausgesetzt.

Ikonen bzw. ikonisch wirkende Bilder leben von der Option, dass sie immer wieder als Bilder von ikonisch Gemachten in die Bilderwelt eingespeist werden. Was geschähe jedoch, würden Ikonen nicht mehr wie bisher Fragen ihrer Kontexte hervorrufen, sondern es würde einmal umgekehrt die Frage des Kontextes im Mittelpunkt stehen, durch den gegenwärtige Probleme des (Foto-)Ikonischen zur Sprache gebracht würden – und nicht immer wieder aufs Neue das Nichthistorische und die Zeitlosigkeit einer Ikone bestätigt würde? Ikonen erzählen nur zu einem Teil von ihrer vermeintlichen Zeitlosigkeit – zum anderen provozieren sie die aktuelle Differenzierungsfähigkeit ihrer Nutzer*innen.

Eine Ikone steigert die Geistesgegenwart, mit der sie von einzelnen Betrachter*innen als Bild im Bild betrachtet wird; ein Kontext steigert die Komplexität, in der eine Fotografie jetzt als ein zeitloses Bild in Form einer Unterscheidung zwischen aktueller Bildwahrnehmung und einer erweiterten Kunstwahrscheinlichkeit aufscheint.

Michael Kröger

… ist freier Kurator und Autor (www.mikroeger.de)

 

BU: Ursula von der Leyen fliegt gemeinsam mit Kyriakos Mitsotakis (Mitte), Charles Michel (l) und David Sassoli entlang die griechisch-türkischen Grenze. Foto: Dimitris Papamitsos/dpa

 

1 Kommentar zu Kontexte des Ikonischen. Zur Differenzierung der Natur fotografischer Bilder

  1. Ab wann, wird eine Fotografie ikonisch und für wen? Ich denke ein „allgemeines kulturelles Gedächtnis“ (das immer schon nur das Gedächtnis der 1. westlichen Welt war) löst sich langsam auf, denn die fortschreitende Diversifikation der kulturellen Milieus widerspricht diesem. Hier hatten die Ikonen ihren Platz. Früher hatte man sich unausgesprochen auf eine Ikone „geeinigt“ (dies unterlag vielen Einflüssen z.B. Verbreitungsgrad, Ort, Künstler, Medium usw.) Heute scheint jedes Milieu, jede Szene, jeder Interessensverbund seine Ikonen zu haben und damit auch „ikonisch“ Bilder von diesen. Ein aktuelles Beispiel: Vor ein paar Tagen verstarb für mich eine Ikone der elektronischen Musik, Genesis Breyer P-Orridge. Er / Sie war der Mitbegründer der Throbbing Gristle, einer sehr einflussreichen englischen elektronischen Avantgardeband. Aber wer auf der Straße kennt bzw. erkennt ihn/sie? [Bei Fotografien z.B. von Anton Corbijn stellt sich auch die Frage, wer ist hier die Ikone der Fotograf, der Musiker, das Bild?] Und ist das allgemeine Wiedererkennen eine Voraussetzung für den Status als Ikone? Also könnte man nicht sagen, jede Ikone braucht ihre Bewunderer, ihre Gläubigen, zumindest einer „Einheit“ für ihren Status. Eine Allgemeingültigkeit ist kaum noch zu erreichen, dafür sind unsere Kultur– Milieus zu unterschiedlich. Und eine mit einem Panzerband an die Wand geklebte Banane ist nicht ikonisch, höchstens war sie eine kurze Zeit lang mal „Hipp“- oder? Mein letzter Ausstellungsbesuch „IKONEN /Kunsthalle Bremen“ ließ mich fragend zurück, vergeben wir nicht zu leichtfertig diesen Titel und an welche Bedingungen ist er geknüpft?

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