Christian Borchert: Tektonik der Erinnerung – eine Rezension

Nun ist es endlich da, das umfassende Buch über den Fotografen Christian Borchert: „Tektonik der Erinnerung“, herausgegeben von Bertram Kaschek, erschienen im Spector Verlag Leipzig.

Meine Erinnerung an Christian Borchert beginnt mit gelegentlich veröffentlichten Fotografien in Zeitschriften, die mir zu Beginn der 80er aufgefallen waren, seinen Künstlerporträts, die ich anfangs keinem Namen zuordnete und schließlich mit seiner Ausstellung in Dresden 1985, die mir als Paukenschlag daherkam, mit der er mir als Pendant zu Robert Frank erschien. Seitdem war er für mich der wichtigste ostdeutsche Fotograf. Im selben Jahr lernte ich ihn beim Karl-Marx-Städter Fotosymposium persönlich kennen und wir standen seither in losem Kontakt.

Christian Borchert starb unerwartet im Jahr 2000, sein Archiv wurde an verschiedene Orte aufgeteilt und die Wahrnehmung seiner Arbeit verschwamm. Sein Erbe steht modellhaft für die Problematik künstlerischer Nachlässe. Die wenigen Ausstellungen zu Lebzeiten hat nur ein bestimmter Personenkreis in Erinnerung, das schöne schmale Buch „Berliner“ aus dem Westberliner ex pose verlag von 1986 ist lange vergriffen, andere Bildbände bis in die jüngste Zeit empfand ich oft als unglücklich geraten in Auswahl und Form. Machte man Leute auf ihn aufmerksam, kamen diese schulterzuckend auf die Website der Deutschen Fotothek in Dresden, die ein riesiges Konvolut seiner Bilder online gestellt hatte. Indes waren seine Familienporträts häufig zu sehen, wohl weil sie den Erwartungen an sozialdokumentarische Fotografie ganz gut entgegen kommen. Der Kunsthistoriker Bertram Kaschek hat nun über mehrere Jahre den Nachlass von Christian Borchert akribisch recherchiert, umfassend aufgearbeitet und sortiert. Er konnte sich unbelastet von Erwartungen und Vorurteilen mit dem Komplex auseinandersetzen und das ist ihm ausgezeichnet gelungen.

Die große Ausstellung im Dresdner Kupferstichkabinett ist gerade zu Ende gegangen, jetzt liegt der dazu gehörige schwere Band vor – das Standardwerk über Christian Borchert schlechthin – was Anlass gibt, über Auswahl und Rezeption nachzudenken. Für mich liegt Christian Borcherts außerordentliche Bedeutung in den Szenen, die er in den 80er Jahren im öffentlichen Raum aufgenommen hat, stringenten Beobachtungen ohne formale Attitüden, trockener und weniger symbolträchtig als vergleichbare Arbeiten von Robert Frank. In der Dresdner Ausstellung und mehr noch im Buch ist dieser Aspekt eines neben vielen anderen mehr oder weniger gleichberechtigt behandelten Themen, die für mich jedoch den Alltagsdarstellungen nachgeordnet sind. Aber das ist eben meine persönliche Sicht, die sich auch nicht mit Christian Borcherts Intentionen decken muss. Im Buch werden ebenso Arbeitszustände dokumentiert, die das Austesten von verschiedenen konzeptionellen Ansätzen in den 90ern zeigen.

Die Frage, wie Christian Borchert die vorliegende Auswahl sehen würde, ist spekulativ. Während beispielsweise Arno Fischer sein künstlerisches Vermächtnis schon früh ganz klar festgelegt hat, war Borchert in ständiger Archivarbeit begriffen. Was letztendlich in seine Auswahl für die Ewigkeit gekommen wäre, so er wirklich danach gesucht hat, sei dahingestellt. In der Ausstellung gibt es keine offensichtlich herausgestellten Solitäre, wie sie in der Schau seiner Altersgenossin Helga Paris 2019 zu sehen waren: der Fotograf hat ausschließlich für’s Archiv geeignete Formate vergrößert, was für die Prozesshaftigkeit von Christian Borcherts Arbeit spricht.

Das Buch als bleibendes Dokument, bei seiner Vielfalt präzise und sachlich zusammengestellt, bietet die Möglichkeit, sich gründlich mit dem Fotografen auseinanderzusetzen und sich selbst von seinem Lebenswerk ein Bild zu machen. Im Juni 2020 kommt die Ausstellung in räumlich reduzierter Form und ergänzt um eine Auswahl der erwähnten Alltagsaufnahmen ins Sprengel Museum Hannover.

Bertram Kaschek (Hrsg.), Christian Borchert. Tektonik der Erinnerung, Leipzig: spectorbooks 2020

 Florian Merkel

…ist Fotograf, Musiker, Autor aus Berlin

1 Kommentar zu Christian Borchert: Tektonik der Erinnerung – eine Rezension

  1. Danke Florian Merkel für diesen schönen Text. Ich glaube, dass es wichtig ist, immer wieder persönliche Erinnerungen und Eindrücke auf ein Werk zuzulassen, um seiner Festschreibung immer wieder zu entkommen und Perspektivenwechsel zuzulassen. Bertram Kascheks Arbeit hat mich auch sehr beeindruckt. Tolles Buch, das mir viele bislang unbekannte Seiten von Borchert eröffnet hat.

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