Zweifel und Versprechen. Hans Magnus Enzensberger und Boris Groys über Kunst und Fotografie

Noch bis in die Zeit um die Jahrtausendwende zehrte die Kunst- und Foto-Theorie von der wechselseitigen Erhellung zwischen Kunst/Malerei und Fotografie. Auch wenn letztere längst unangefochten ihren Kunststatus errang, lohnt es sich immer noch ihre wechselseitige Abhängigkeit historisch zu beleuchten.

In diesem Text werden dazu beispielhaft entsprechende Positionen von Enzensberger mit denen von Groys gegenübergestellt. Die implizite Frage der beiden Autoren lautet dabei: Sind Bilder, ob gemalt und / oder fotografiert, höchstens noch (mehr oder weniger anspruchsvolle) Kommunikationsanlässe? Welche Zweifel und welche Versprechen meinten Enzensberger und Groys – und mit welchen aktuellen Erwartungen lesen wir heute deren Texte? Post-autonom gemalte Bilder sind heute „nicht mehr das Ziel der Kunst“ – so Wolfgang Ullrich im Jahr 2003 -, eher Anlässe für Kommunikation diesseits und jenseits von Kunst. Sie machen sichtbar, wie variantenreich und anspruchsvoll Fiktionen im Bild als flächige Zeichen von Unwahrscheinlichkeiten inszeniert werden können. Parallel dazu kommunizieren Fotografien ihre Bild gewordenen Fiktionen um sie als Unwahrscheinlichkeiten in einer unwahrscheinlich gewordenen Realität zu halten.

In seinem 2012 veröffentlichten Band „Zwanzig zehn-Minuten Essays“ äußerte Hans Magnus Enzensberger in einem Text mit dem leicht irritierenden Titel „Wohin mit der Photographie?“ einen ebenso interessanten wie auch gleichzeitig merkwürdigen Gedanken: Im Zusammenhang mit dem historischen Funktionswandel der Fotografie als Kunst gewordener Bilderzeugung bzw. im Kontext der Debatte um deren Kunstwert schrieb Enzensberger damals eigenartig kryptisch: „Seitdem Kunst Kunst genannt wird, und das ist bekanntlich erst seit ein paar Jahrhunderten der Fall, folgt ihr wie ein eigener Schatten der Zweifel.“ (S. 68) Interessant an diesem Satz ist nicht nur die irritierende Satzstellung, sondern auch den Zweifel, den er selbst in uns Lesenden auslöst. Der Zweifel als Effekt gewordener Affekt des Schattens, der rückwirkend wiederum auf die Kunst verweist, steht unerwartet am Ende dieser Kette von Zusammenhängen. Produktiv erscheint mir Enzensbergers Schlussfolgerung, weil diese so tut als würde sie eine Form von Eindeutigkeit formulieren – obwohl sie in Wahrheit genau das Gegenteil vollbringt. Der Zweifel am Ende des Satzes lässt sich buchstäblich nicht auflösen: er steht am Ende und bleibt auch dort a l s Zweifel existent. Ohne jeden Zweifel war Enzensberger ein Autor, der falsche Sicherheiten nicht liebte, sondern sich erfolgreich von seinen eigenen zugespitzten Widersprüchen herausfordern ließ. In seinem ein Jahr später erschienen Band „Herrn Zetts Betrachtungen“ heißt es in genau diesem Kontext: „Widersprecht mir, aber vor allem widersprecht euch selbst. Nur an dem, was einer nicht sagt, sollte er festhalten.“ (S. 12) Der von Enzensberger bewusst ans Ende gestellte Zweifel besitzt in diesem Satz die Funktion, sich selbst aufzurufen und sich erst im Bewusstsein der Lesenden zu entfalten: Gehört es nicht zur Paradoxie, zur Mythos geworden Natur von Kunst, dass sie trotz aller kunstwissenschaftlicher Arbeit auf ihrem Anteil des Zweifelhaften beharrt?

Ganz im Gegensatz zum kritisch-zweifelnden Enzensberger operierte der lustvoll dekonstruierende Theoretiker Boris Groys im Spiel um die Deutungshoheit zwischen postmodernem Künstler und dem sich selbst reflektierenden Fotograf. Groys konstruierte eine Unterscheidung, die die alte körperhafte und neue körperlose Anwesenheit und Arbeitsweise der beiden Operateure zum Kriterium ihrer gegenseitigen Unterscheidbarkeit erhob: „Indem der Künstler seine Verfahren offenlegt, formalisiert und strategisch einsetzt (…) verzichtet er auf im traditionellen Sinne ein Genie zu sein, d.h.  eine unmittelbare, unreflektierte Manifestation seiner inneren Natur zu sein.“ (Topologie der Kunst, München/Wien 2003, S. 128) „Der Photograph, der die Welt beobachtet und begutachtet, um seine persönliche Wahl unter den Aspekten dieser Welt zu treffen, agiert für die Gesellschaft als vorbildlicher Konsument. Seine Bilder sind in erster Linie Konsumvorbilder. Der Künstler-Photograph (…) unterwirft sich nicht unserem Geschmack. Seine eigentliche Aufgabe ist das Geschmacksdesign, das Blickdesign.“ (S. 129) „Der Verzicht auf den Geniebegriff verwandelte den Künstler endgültig (…) in einen Sammler. Jetzt ist der Künstler nicht länger Arbeiter, sondern er beginnt die Welt mit dem sammelnden Blick des Herrn zu betrachten.“ (S. 130) „Erst als Photograph stellt sich der Künstler auf die gleiche Ebene mit dem Sammler, denn er produziert Bilder ebenfalls augenblicklich, durch das einfache Klicken der Kamera.“ (S. 131).

Anders als im Falle von Enzensbergers Zweifel, der sich in Form einer uneindeutigen Wechselbeziehung zwischen Kopie und Original als einem unlösbarem Ineinander manifestierte, enthält die Fotografie nach Groys ein unerfüllbares Versprechen – das Versprechen einen körperlosen unsichtbaren Blick auf Sichtbares zu bezeugen. „Die Photographie wie auch die moderne Bürokratie geben uns ein Versprechen, Schutz vor dem fremden Blick zu gewähren – allerdings nur dann, wenn wir eine Stellung hinter der Kamera und nicht vor der Kamera einnehmen.“ Indem sich der Künstler aber „in der Photographie als reiner entkörperter Blick zeigt, verspricht er uns die Möglichkeit, uns jederzeit sowohl hinter seiner Kamera wie auch vor seiner Kamera vorzustellen ” (S. 137)

Fassen wir das Bisherige zusammen, indem wir kurzerhand zwei Zitate miteinander konfrontieren:  „Art is what you can get away with“ (Andy Warhol); „Fotografien sind (…) das Ergebnis eines Entschlusses eines Fotografien aufzuzeichnen, das genau dieses eine Ereignis oder Ding gesehen worden ist.“ (John Berger, 1968) – Nach Enzensberger und Groys liegt ein Versprechen der vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Fotografie in der Tatsache begründet, dass man die eine Seite ohne die andere nicht denken könne. Der Zweifel und das Versprechen bilden zwei – höchst unbestimmte – Pole zwischen den beiden Bild-Medien. Beide reflektieren die Tatsache, dass die (un-)bewussten Filter mit denen wir Konsumentinnen heute durch die Bilder-Meere segeln, von ebenso unbestimmten Erwartungen geprägt sind, die die Ansprüche unserer Gegenwart ebenso rückwirkend reflektieren wie auch vorausschauend in die nächste Zukunft bewegen.

Michael Kröger

… ist freier Kurator und Autor

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