Erstaunlicherweise geht doch so manch neuerer Beitrag zur Foto-Theorie ab und zu unter – selbst wenn sie von namhaften Autoren stammt. Das geht mir selber so, denn die Diskussion von Isabelle Graw und Benjamin Buchloh zur Indexikalität in analoger und digitaler Fotografe, bereits im September 2015 publiziert im Hort der mittlerweile auch nicht mehr so neuen kritischen (vermeintlich „neo-marxistischen“) Kunsttheorie „Texte zur Kunst“ habe ich erst zweieinhalb Jahre entdeckt. War der „alert“ wohl nicht richtig eingestellt…
Da ich aber augenscheinlich nicht der Einzige bin, der das Gespräch der beiden Chef-Theoretiker der kritischen Kunstgeschichte zur neueren Fotografie vorerst übersehen hat – eine daran anknüpfende Diskussion habe ich bislang noch nicht entdeckt –, sei dieses Desiderat hiermit beseitigt.
Worum dreht es sich bei dem viel versprechend klingenden Text „Verlorene Lebensspuren. Ein Gespräch über Indexikalität in analoger und digitaler Fotografie zwischen Isabelle Graw und Benjamin Buchloh“ in Heft 99 von Texte zur Kunst? (Das Heft ist übrigens vergriffen, der Text aber abrufbar: https://www.textezurkunst.de/99/verlorene-lebensspuren/) Nach einer Einleitung, in der die Hoffnung geäußert wird, dass „heute kaum noch jemand tatsächlich an die Wahrheitsbehauptung der Fotografie glaubt, erneuert sie doch jeden Tag ihr falsches Versprechen der Authentizität“, will Isabelle Graw das exemplarische Foto-Theorem der „Indexikalität“ unter dem Eindruck der Digitalisierung als „Indexeffekte“ neu fassen. Benjamin Buchloh hält dies für zu wenig komplex und betont, dass es wichtig sei neben dem Indexikalischen auch das Ikonische zu berücksichtigen. Eben diese nicht vorhandene Gewichtung habe schon Walter Benjamin an Renger-Patzsch kritisiert, dessen Ansatz das Bild auf das Ikonische reduziert habe.
Buchloh hat aber auch neuere Kunst im Blick, denn er betont, dass die Bechers wieder ein Gleichgewicht hergestellt hätten, aber – es kommt wie es kommen musste – dieses Gleichgewicht sein bei den Becher-Schülern wieder zugunsten einer Verabsolutierung des Narrativen und der Ikonizität erneut aus den Fugen geraten. Schon hier kann man sich, kennt man die Elogen Buchlohs über Thomas Struth, über die vereinheitliche Kategorie der Becher-Schüler wundern.
Auch Isabelle Graw kritisiert Buchlohs einäugige Kritik als eine bloße „Verfallsgeschichte“, doch der Harvard-Professor legt nach und geißelt Gurskys fotografische „Welt ohne Kritik“ als Widerwärtig verführerisch“, während er bei den Bechers die „Starre ihrer doppelten Verneinung“ lobt. Als dann Graw dann die Diskussion zur Frage des Subjekt-Begriffs unter den Bedingungen der Digitalisierung verlagert, gerät Buchloh noch stärker in Rage und verpönt Gurskys „naiven Maschinen- und Technologiefetischismus“, dem ein emanzipiertes Subjekt-Verständnis längst abhandengekommen sei. Die „neuen Technologien der Selbsttäuschungen“ gingen einher mit einer „Auslöschung des Subjekts“. – Der Titel eines Buches, welches Beat Wyss vor mehr als zwanzig Jahren publizierte und dort die ideologisch prekären Hintergründe eines enttäuschten Utopie-Wahns aufzeigte, fiel mir spontan ein: „Trauer der Vollendung“
Dass Isabelle Graw dennoch in der digitalen Fotografie mit dem Selfie dennoch ein Beispiel für Residuen der Subjektivität erkennen möchte, interessiert den Programmatiker der Neoavantgarde nicht mehr: „Das einzige Subjekt, das uns öffentlich noch vorgestellt wird, ist das spektakularisierte Substitut des Subjekts, demgegenüber alle Formen traditioneller Subjektformation völlig obsolet und lachhaft erscheinen.“ – Bums, da haben wir es: digitale Fotografie ist „falsch“, das Subjekt tot!
Irgendwie aber scheint es doch noch zu zucken, denn Buchloh unterschlägt geflissentlich die Reflexion seiner eigenen Rolle in der Kunst-Welt. Oder erfüllt er bereits selbst die Rolle des spektakularisierten Theoretiker-Substituts, so dass die Kunsttheorie allein als (zynische) Unterhaltungsform einer im Prozess der Ausdifferenzierung untergegangenen bürgerlichen Gesellschaft fungiert?
Wir haben es hier mit einem Musterbeispiel dafür zu tun, dass sich bestimmte Denkmodelle seit vielen Jahrzehnten nicht mehr selbst in Frage gestellt haben, obgleich sich Gegenstand und Gesellschaft seitdem verändert haben. Kann man das Jammern eines Apologeten der Kunst der 60er Jahre anders denn als intellektuelle Kapitulation vor einer veränderten Realität verstehen? Dass eine kritische Kunstgeschichte auch aktuell möglich ist, beweisen zumindest Isabelle Graws vorsichtige Überlegungen – auch wenn die Hinweise auf eventuelle „Indexeffekte“ ebenso wenig ausreichen wie der Hinweis auf die künstlerisch irrelevante Form des Selfies. Der Versuch aber aus einem unzeitgemäßen Modell auszubrechen, ist auf jeden Fall da. Die Gegenwart und ihre Kunst hingegen nur als Ausdruck einer Verlustgeschichte zu sehen, ist eine bloße Form einer Flucht vor der Gegenwart, die es sich in den uneingelösten Visionen der Vergangenheit bequem macht.
Stefan Gronert
…ist Kurator am Sprengel Museum Hannover