4 Fragen an…Alessandra Nappo

Du hast in Italien über Dokumentarfotografie in Deutschland promoviert und auch das entsprechende Buch unter dem Titel „I Nuovi Documentaristi Tedeschi“ publiziert, hast ein Volontariat am Sprengel Museum gemacht, warst kuratorische Assistentin im New Yorker MoMA und bist heute Kuratorin für Gegenwartskunst an der Staatsgalerie Stuttgart, wo Du zusammen mit Bertram Kaschek seit Kurzem den Raum für Fotografie mit dem Namen „The Gällery“ leitest. Du bist also Expertin für das Medium, aber auch medienübergreifend für zeitgenössische Kunst: Wie würdest Du den Stellenwert der Fotografie in der aktuellen Kunst beschreiben? Markiert sie eine eher randständige Position, steht sie im Zentrum oder wo würdest Du sie verorten?

Zuerst sollte man daran erinnern, dass sich die Rolle der Fotograf*innen in den letzten Jahrzehnten extrem gewandelt hat. Fotografierende wurden einer Art Hybridisierungs-Prozess unterworfen: Sie sind zu „Bildoperateuren“ geworden, die sich zwischen unterschiedlichen Medien wie Fotografie, Grafik, Video, Performance und Installation bewegen. Man sollte dazu erwähnen, dass die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Medien auch in den Arbeiten von zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern, die sich ursprünglich nicht mit Fotografie beschäftigen, immer unschärfer geworden ist und sie nun auch immer öfter zum fotografischen Medium greifen. Das bedeutet, dass die Fotografie in der aktuellen Kunst immer präsenter geworden ist und in sehr differenzierten Kontexten gezeigt wird. Sie spielt keine marginale Rolle, sondern steht oft im Zentrum der aktuellen künstlerischen Produktion.

Die Staatsgalerie Stuttgart hat ja durch die Sammlungen Krauss und Mayer schon seit den ausgehenden 80er Jahren einen bemerkenswerten Bestand: Welches Konzept verfolgst Du bei Deinen aktuellen Ankäufen für die Sammlung?

Die Erwerbungen der Sammlungen Rolf Mayer und Rolf H. Krauss ermöglichten 1989 die Gründung der Abteilung Fotografie in der Staatsgalerie. Diese Konvolute haben in ihrer jeweiligen Ausrichtung (die Pionierzeit der Fotografie bis zur Klassischen Moderne sowie die Konzeptkunst aus den 1960er- und 1970er-Jahren) auch die weitere Sammeltätigkeit des Museums stark geprägt. Ausgehend von diesen Schwerpunkten hat die Staatsgalerie ihr fotografisches Sammlungsprofil in den letzten dreißig Jahren kontinuierlich geschärft und erweitert. Durch unsere Ankaufsstrategie versuchen wir der Identität unserer Sammlung treu zu bleiben. Zugleich versuchen wir aber auch die Sammlung in neue Richtungen zu erweitern.

Nur zwei Beispiele, die diese zwei Ansprüche zusammenfassen: Durch die Erwerbung von Werken aus der Sammlung Siegert in diesem Jahr wurde der Bestand aus der Sammlung Mayer sowohl qualitativ wie auch quantitativ erheblich verstärkt. So bieten die ca. 200 Originalabzüge einen breiten Überblick über die internationale Foto-Avantgarde der 1920er- und 1930er-Jahre. Parallel bemühen wir uns durch Neuerwerbungen, unsere Lücken zu schließen. So finden auch zunehmend zeitgenössische und international etablierte Positionen Eingang in den Sammlungsbestand, die bisher unterrepräsentiert waren. Mit Werken von u.a. Rineke Dijkstra, Annette Kelm, Barbara Probst, Ricarda Roggan und Wolfgang Tillmans sammelt das Museum fotografische Positionen, die eine wesentliche Rolle in der internationalen Fotoszene spielen und den aktuellen Fotodiskurs stark prägen. Wir versuchen unsere museale Sammlung aus einer gegenwärtigen, globalen Perspektive und den sich rapide verändernden gesellschaftlichen Realitäten immer wieder neu zu denken.

Die Praxis des Kuratierens hat sich in den vergangenen Jahren, wie ich finde, dramatisch verändert: Wir sind aufgefordert gesellschaftliche Diversität immer stärker in unseren Ausstellungen abzubilden, ökologische Aspekte zu berücksichtigen, Energie zu sparen und gleichzeitig hohe Besucherzahlen zu erreichen: Glaubst Du das Ausstellungen in zehn Jahren anders aussehen werden als heute? Und wenn ja: wie?

Ob in zehn Jahren Ausstellungen im traditionellen Sinne überhaupt zu sehen sein werden, das kann man schwer vorhersehen. In Anbetracht des aktuellen und immer komplexeren Kontextes, der sich ständig und radikal wandelt, und der wachsenden Anforderungen für Kunstinstitutionen (Energie zu sparen, ökologische Aspekte zu betrachten usw.) stellt sich die große Frage, ob sich die Museen noch die kanonischen Formate leisten können oder sich eher immer öfter für hybridere Angebote entscheiden werden müssen. Einige Museen werden vermutlich ein komplett digitales Programm definieren müssen, wie es (in fast vollständig digitaler Form) schon seit Jahren im Museo della Fotografia Contemporanea in Cinisello Balsamo (Mailand) passiert. Das betrifft selbstverständlich nicht nur die Fotografie, sondern die Institution des Museums allgemein. Also, man kann nur schätzen, dass künstlerische Institutionen wahrscheinlich in zunehmendem Maße auf einen digitalen Ebene agieren werden.

Gibst es eine Neu- oder Wiederentdeckung in der Fotografie, die Du in den letzten Monaten oder in diesem Jahr gemacht hast, etwas, was Dich total fasziniert hat?

Ich kann gerne ein Beispiel nennen, das mein letztes Ausstellungsprojekt betrifft. In „Body/Spaces“ haben mein Kollege Bertram Kaschek und ich fotografische Werke aus der Sammlung in fünf thematischen Kapiteln präsentiert. Ein Raum war der dreiteiligen Arbeit „Gregor´s Room (1999) vom Künstlerpaar Teresa Hubbard und Alexander Birchler gewidmet, das 20 Jahre lang nahezu versteckt im Depot lag und das wir kürzlich wiederentdeckt haben. Das Werk wurde von Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ (1912) inspiriert und der Titel des Werkes, „Gregor´s Room“, verweist auf deren Protagonist, Gregor Samsa. In dem Zimmer, das aus unterschiedlichen Blickwinkeln in den Aufnahmen und im Video betrachtet wird, herrscht eine Atmosphäre latenter Kontrolle, Überwachung sowie Isolation und Klaustrophobie. Es ist ganz interessant, das Werk mehr als 20 Jahre später aus der heutigen Perspektive zu betrachten. Angesichts der Corona-Pandemie und unseres neuen Verhältnisses zu den Räumen, in denen wir uns bewegen, können wir nicht vermeiden, an die beklemmende Erfahrung eines Gefangenseins zu denken, die wir kürzlich alle während der Lockdowns und Zugangsbeschränkungen weltweit erlebt haben. Ohne das Werk auf diese Interpretationsebene zu reduzieren, lässt sich die Aktualität und Brisanz einer solchen Arbeit entdecken.

Mit herzlichem Dank an…

Alessandra Nappo

..ist Kuratorin für Kunst des 20./21. Jahrhunderts an der Staatsgalerie Stuttgart

BU: Foto: Oliver Kröning

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