Wie abstrakt ist die Fotografie? Ein Standwerk zu einem zentralen Thema der Bild-Geschichte

Es gibt keinen rationalen Grund, warum der Hinweis auf dieses bereits im Dezember 2019 erschienene Buch im vorliegenden, angeblich doch auf Aktualität bedachten Blog erst so spät erfolgt. Denn das Thema einer „Fotografiegeschichte der Abstraktion“ berührt in der mittlerweile differenzierten, nicht länger nur dokumentarisch verengten Foto-Debatte keineswegs ein nur randständiges Phänomen. 

Überdies zeigt es durch den Titel einen hohen, ja geradezu umfassenden Anspruch an, läßt also auf den Stellenwert eines Standardwerks schließen, was der Umfang von 400 Seiten auf einer formalen Ebene ebenfalls bestätigt. Zudem ist die hier schmählich verspätet angezeigte Publikation bereits durch die Autorität so gewichtiger Rezensenten-Stimmen wie der von Rolf Sachsse und Rolf H. Krauss bereits bezeugt. Und nicht zuletzt hat sich die Autorin, Kathrin Schönegg, seit dem Sommer 2019 als Kuratorin bei C/O Berlin tätig, in den vergangenen Jahren durch diverse souveräne Aufsätze aus einem verwandten Themenfeld bereits einen Namen gemacht (z.B. Kalkulierte Distanz. Zur Autopoiese, Abbildung und Abstraktion in Fotografien nach 1970, 2013; Zurückkommend auf die Fotografie. Zum Verhältnis von Fotografie und Malerei im postfotografischen Zeitalter, 2018 )

Doch nach dieser als andere als kokett gemeinten Selbstdenunziation nun endlich zur Sache: Die in der Beschäftigung mit Malerei heute längst (aus Ermüdung oder Larmoyanz?) nicht mehr diskutierte Frage, was eigentlich abstrakt sei, hat man in grundlegender Form in der Fotografiegeschichte anscheinend wohl schon länger nicht mehr gestellt. Ist sie denn müßig, da historisch überholt? Schließlich haben die Vertreter der nicht mehr abstrakten, sondern „konkreten“ Fotografie bereits in den sechziger Jahren (wohlgemerkt: des vergangenen Jahrhunderts) einen durchaus geschickten Schachzug gewählt, sind dem müssigen Terminologie-Streit mit einer Alternative ausgewichen und haben die „generative“ Fotografie (Gottfried Jäger, 1968) ausgerufen. Doch ist das Thema der Abstraktion damit tatsächlich obsolet geworden? 

Schönegg widmet sich gleich zu Beginn ihrer bei Bernd Stiegler in Konstanz verfaßten Dissertation der Frage, was abstrakte Fotografie denn eigentlich sei. Die mitunter widersprüchlichen Definitionsversuche und der parallel dazu statt findende Statuswechsel der Fotografie im Spannungsfeld zwischen Medium und Kunst führt zu keiner einfachen Antwort, wird von ihr aber analytisch klar, zugleich sprachlich gut lesbar dargestellt (vgl. S. 31-50). Anschließend spürt die Verfasserin der „Abstraktion vor der abstrakten Fotografie“ im 19. Jahrhundert nach (vgl. S. 53-148) und läßt dem eine Recherche in den Bereich der wissenschaftlichen und kunstgewerblichen Fotografie folgen, die ebenfalls mehr als ein kurzer Exkurs ist (vgl. S. 148-220). Erst in der zweiten Hälfte ihres Buches widmet sich Schönegg der künstlerischen Fotografie des 20. und im letzten Kapitel kurz auch des 21. Jahrhunderts (Tillmans, Ruff, Sauer, Goldbach). Selbst wenn im Zuge eines Überblicks notgedrungen dabei einige Positionen zu kurz kommen mögen, andere dafür überraschen (z.B. Albrecht Zipfel und der immer wieder verblüffende Timm Ulrichs), gelingt der Autorin eine wirklich beeindruckende, klug argumentierende historische Darstellung. Überzeugend führt sie dabei ihre grundlegende Prämisse aus, dass die Geschichte der Abstraktion in der Fotografie ganz anders verläuft als im Kontext der Malerei. 

Dass diese Geschichte noch nicht zu Ende ist, versteht sich von selbst. Im Gegenteil: Schönegg erläutert, dass das Thema der Abstraktion gerade unter den Bedingungen der Digitalisierung der 2010er Jahre eine neue Aktualität gewonnen hat. Dass diese nicht total neu ist, sondern bereits in den medienanalytischen Ansätzen der 1970er Jahre eine besondere Relevanz besaß (vgl. S.338 f.), ändert daran nichts, sondern kann allenfalls für Vertreter eines teleolgischen Fortschrittsdenkens ein Problem darstellen. Die Abstraktion zählt in genuiner Weise zur Fotografie! 

Und obwohl ich zu Beginn dieser Besprechung scheinbar Gegensätzliches behauptet habe, spiegelt sich diese Aktualität des Themas auch in manch gewichtigen Beiträgen einer jüngeren Generation von Forschenden wieder, die unlängst zu verwandten Fragestellungen publiziert haben. Zu denken ist in dieser Hinsicht z.B. an Franziska Kunze (Opake Fotografie, 2019) oder Markus Kramer und nicht zuletzt auch an die anregende, theoretisch aber etwas dünne Publikation zur Ausstellung der Tate Modern „Shape of Light“ aus dem Jahre 2018.

Wie auch immer: Kathrin Schöneggs Buch ist in diesem Kontext eine zweifellos grundlegende. unverzichtbare Referenz für nachfolgende fotohistorische Untersuchungen. Wer dieses Buch bislang nicht sowieso schon erworben hat und sich nun über die proklamierte Bestätigung des Kaufs freuen mag, sollte es sich vielleicht für den weihnachtlichen Gabentisch wünschen.

Kathrin Schönegg, Fotografiegeschichte der Abstraktion, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2019   

 

Stefan Gronert

…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover

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