Wenn eine Fotografie manchmal ausreicht

Ausstellungseröffnungen sind ein kumuliertes Sammelbecken menschlicher Umtriebigkeiten. Eingepfercht in der Veranstaltung innewohnende Strukturen verbaler Vermittlungsvorgaben, ist die auf das Formelle folgende Möglichkeit der eigenen Selbsteinsicht jeweils ein von zwiespältigen Sehprozessen bestimmtes Ereignis: Alle Werke wollen erschlossen, in einen Kontext gesetzt und zu einer vertretbaren Ansicht geformt werden. Bei Kaltgetränk und Canapés geführten Dialogen heißt es bekanntlich, die unweigerlich vorzufindende Fragestellung sofortig beantworten zu müssen: Und? Hast du schon alle Arbeiten gesehen?

Nur wer alles betrachtet hat, ist laut vorherrschender Meinung auch dazu im Stande, sich einer vermittelbaren und allgemeingültigen Aussage bedienen zu dürfen. Die Vereinnahmung eines einzigen Kunstgegenstandes als umfassend auftretendes Aushängeschild einer gesamten Werkpräsentation erscheint dabei als minder produktiv. Ist das eine Werk wirklich relevant genug, um stellvertretend für eine ganze Ausstellung zu stehen? Reicht das eine Bild aus, wenn an der nächsten Ecke bereits die Option auf vielleicht noch bessere Bilder besteht?

Trotz der überfordernden Grundsituation gibt es gewisse Momente, in denen manchmal eine Arbeit wirklich genügt, um sich ihr allein zu widmen und alles andere zu ignorieren. Mitunter reicht eine großformatige Fotografie eben vollkommen aus, um nicht von allem, sondern nur von ihr zu reden und bisweilen auch zu schreiben.

In der niedersächsischen Gemeinde Einbeck befindet sich – neben einer bekannten Anlaufstelle für den generellen Automobil-Enthusiasten –, die nahe dem Stadtzentrum gelegene Art Lounge des Pflanzenzüchtungs- und Biotechnologie-Unternehmens KWS. Eingegliedert in eine der Gemeinde bis heute erhalten gebliebene Fachwerkarchitektur, widmet sich die KWS-Art Lounge seit 2015 der Kunstförderung und Sichtbarmachung gegenwärtig schaffender Künstler*innen. Der in Celle geborene Künstler Roman Thomas, der noch bis zum 30. Dezember diesen Jahres mit seiner Ausstellung „Hidden Places“ dort zu sehen ist, stellt mit seinen teils großformatigen Fotografien eine ebensolche neue künstlerische Position dar. Seine fotografischen Arbeiten sind durch den Drang des Künstlers bestimmt, an unterschiedlichsten Orten der Welt eine nur in den Bildern zu erzeugende Einmaligkeit von fotografischer Beständigkeit schaffen zu wollen. In Anbetracht der Historie des Mediums ist ein solches Handeln zwar zunächst als ein allzu bekanntes Vorhaben anzugeben. Die Arbeit mit dem zunächst nichtssagenden Titel „The Unknown“ verdeutlicht aber, dass es immer wieder Fotografien gibt, die trotz gegenwärtig bekannter Intentionen dazu in der Lage sind, eine gesamte Ausstellung für sich zu vereinnahmen.

„The Unknown“ bildet zunächst das Innere des Biotechnologie-Unternehmens KWS ab. Was für einige zum assoziativen Gegenstand futuristischer Zukunftsszenarien wird, stellt für andere eine vollkommen bekannte und alltägliche Arbeitsumgebung dar. Die Fotografie generiert Anknüpfungspunkte für Dialog und Vermutung und besitzt, außerhalb der motivischen Zuordnung, eine doch stillschweigend und allzu präsente Dringlichkeit: Nahrungsmittelknappheit und auf globaler Ebene schonungslos ablaufende Ressourcenkämpfe sind gegenwärtige Krisenherde von nicht zu überblickendem Ausmaß. Auf diese Konflikte medial-angemessen zu reagieren, ist eine Kunst für sich. „The Unknown“ verweist in der Betonung auf einen scheinbar unbekannten Ort, der doch präsenter ist, als man zunächst vermuten mag, auf die essenzielle Relevanz, dass auch fern des eigenen Einzugsrahmens liegende Gegebenheiten unterschwellig für das eigene persönliche Bestehen von enormer Wichtigkeit sein können. „The Unknown“ bleibt im Kopf, da es uns in großformatiger Weise vor Augen führt, wie weit der Mensch gekommen und wie weit sein Weg zur Verbesserung der alltäglichen Lebenssituation zahlreicher Menschen noch sein wird.

In Einbeck lässt sich somit noch bis Ende 2022 ein Beispiel dafür finden, wie eine einzelne Fotografie dazu im Stande sein kann, einen Blick zu vereinnahmen und im Trubel der Erwartbarkeit einen unerwarteten Denkanstoß anzuregen und zu fördern.

Alexander Leinemann

…ist wissenschaftlicher Volontär am Sprengel Museum Hannover

BU: Roman Thomas: „The Unknown“, © Roman Thomas

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