Was würde eigentlich geschehen, würde man sich Antworten vorstellen, indem nicht wir Fotografien, sondern Fotografien uns fragen würden, wie wir im Laufe der Zeit zu Fotografiekundigen geworden sind? Sind es nicht gerade Fragen, die die Aktualität von Fotografien aktivieren?
(Analoge) Fotografien besitzen, so Roland Barthes in seiner „Hellen Kammer“ (1980), ein „Bestätigungsvermögen“: sie zeigen, wie sie sich hier als fotografisch erzeugte Bilder abbilden und dem Betrachter jetzt eine komplexe zeitliche Wahrheit bestätigen: „So ist es – jetzt – gewesen“. Diese Zeit hat hier einmal existiert und ist dort im Bild als Fotografie fixiert – und weiterhin präsent. Heute im Digitalzeitalter hat sich neben diesem Vermögen ein zweites, eher vom Betrachter formulierbares reflektierendes Handeln entwickelt. Die Frage lautet jetzt: wonach fragen und wie denken wir eigentlich mit und durch Fotografien?
Eine zentrale Frage der älteren Fototheorie lautete: In welcher Beziehung steht eigentlich die eigenartig diskontinuierliche, angehaltene Zeit einer Fotografie zur nicht-fotografierten Lebenszeit ihrer Betrachter*innen? In diesem Moment verändert sich die Rezeptionssituation; die Ausgangsfrage lässt sich zusätzlich fokussieren: Welche Fotografie antwortet auf die Fragen, die mir eine und nur diese eine Fotografie eröffnet?
Auf diese Weise aktiviert jeder reflektierte Umgang mit dem fotografischen Bild eine spezifische Art von „Beharrungsvermögen“ – nämlich als Frage: Warum existieren – gerade hier und jetzt – einzelne ausgesuchte Fotografien, die uns davon erzählen, wie wir unser Vermögen aktivieren, eine gemeinsame Zeit zwischen Fotografie und unserer Betrachtung herzustellen? Diese gemeinsame Zeit war damals, in der Zeit der Analogfotografie, noch relativ einfach zu bestimmen. Indem man die Zeit der Fotografie zeitlich theoretisierte, blieb die eigene Lebenszeit ausgespart und als Leerstelle zurück. Heute dagegen wird Lebens-Zeit faktisch und zwar fotografisch reproduziert: Es handelt es sich um eine Zeit in der Fotografie, die gleichzeitig wie eine Art Wahrnehmungsfalle operiert: Die damalige Leerstelle ist mit dem aktuellen Machen, dem Schaffen neuer Aktualität mittels dem (technischen) Verändern, Verlinken, Vertauschen von fotografischen Referenzen so intensiv verbunden, so dass kaum noch Zeit bleibt, um inne zu halten, um vom Strom fotografierter Handlungszeit nicht sofort mitgerissen zu werden.
Und gleich noch eine nächste naheliegende Frage: Was macht das permanente Fotografiert-und-ins-Netz-gestellt-werden mit meinem eigenen Bild, das ich aus meinem Leben und mein fotografiertes Leben aus mir gemacht haben? Erst der andauernde, lebenslange Umgang mit dem Bild, das Fotografien in uns und für uns hinterlassen haben, aktiviert im Nutzer solche Fragen, auf die das Medium viele Antworte parat haben wird – wenn sie denn überhaupt gestellt werden.
Die Fotografie besitzt also nicht nur ein Bestätigungsvermögen, sondern auch einen unabgegoltenen Anspruch Foto-Fragen zu stellen, die am Ende die Natur dessen betreffen, was das Medium Fotografie in ihrem Kerngeschäft verändert hat: das Vermögen im Bild eine jeweilige Gegenwart zu erkennen und in Form eines Textkommentars festzuhalten. Früher bestätigten uns Fotografien, dass sie „einmal so wie hier im Bild“ gewesen wären. Heute bestehen Fotografien darauf, dass sie in uns ein weiterreichendes Erinnern und komplexes Fragen auslösen, mit denen wir nicht gerechnet hätten. Wir lernen heute also bildlich gesagt Fotografisches zu denken indem wir die Fragen der Fotografie ernst nehmen. Und hier, an dieser Stelle kommen Sie jetzt als Antwortende auf derartig fotografisch erzeugte Fragen notwendig ins Spiel …
Michael Kröger
… ist freier Kurator und Autor (www.mikroeger.de)
BU: Christoper Williams, Kiev 88, 4.6lbs. (2.1kg), Manufacturer: Zavod Arsenal Factory, Kiev, Ukraine
Date of production: 1983–87, Photography by the Douglas M. Parker Studio, Glendale, California,
March 28, 2003, 2003