Anlass für diesen Blog-Beitrag ist die verbreitete Annahme, dass zeitgenössische künstlerische Fotografie nicht zu restaurieren sei. Doch ist dies tatsächlich so? Bleibt im Falle einer erst kürzlich produzierten, beschädigten Arbeit nichts anderes übrig als eine Neuproduktion?
Man stelle sich vor, wir lebten heute in den 1920er, 1930er Jahren. Die Fotografie ist damals wie auch heute einem ständigen technologischen Fortschritt unterworfen. Bilder sind unendlich und immer besser reproduzierbar. Die Lichtempfindlichkeit der fotografischen Emulsionen nimmt mit den Silbergelatine-Entwicklungspapieren zu und mündet nicht zuletzt in einer schnelleren fotografischen Verarbeitung. Aus heutiger Sicht haben wir es aus dieser Zeit mit „Vintage Prints“ zu tun, die ihre Patina allein schon aufgrund der damaligen Materialbeschaffenheit gerade zu atmen. Oberflächenstrukturen und verschiedenfarbige Tonwerte der Fotopapiere von chamois, weiß-gräulich bis grünlich waren Mitte des 20. Jahrhunderts an der Tagesordnung. Eine Materialvielfalt für Silbergelatine-Abzüge, die heute so nicht mehr produziert wird. Darin spiegelt sich nicht zuletzt auch der meist höhere monetäre Wert von älteren oder noch vom Künstler*in abgezogenen „Vintage Prints“ wieder, obwohl auch diese einmal zeitgenössisch waren.
Springen wir nun mit Anthony Hernandez in die 1990er Jahre und betrachten sein Werk „Ohne Titel (Pipes)“, aus der Reihe „Landscapes for the Homeless“ (1991). Obwohl es sich hier um das Werk eines Zeitgenossen handelt, ist das angewendete fotografische Verfahren mit einem Ilfochrome bereits obsolet. Die damalige technische Neuerung des Silberfarbstoffbleichverfahrens ab den 1960er Jahren ist inzwischen bereits so veraltet, dass es heute nicht mehr nachproduziert werden kann, zumindest nicht in der original vom Künstler gewählten Technik. Würde man hier sagen, dass – im Falle eines Schadens – eher ein Neuabzug als eine Restaurierung in Frage kommt? Handelt es sich bei der ursprünglich verwendeten, inzwischen obsoleten Technik nicht ebenso um ein erhaltenswertes Gut, freilich auf der Ebene der Materialität, des Bildinhalts und der intendierten Farbigkeit? Hinzu kommt, dass bei der oben gezeigten zwei-teiligen Arbeit die Verklebung der beiden Prints mit einem kleinen Abstand auf einen schwarzen Untergrundkarton durchaus eine Rolle spielt. Sie ist Werkbestandteil und verleiht diesem geradezu einen unikalen Charakter. Aus konservatorischer Sicht wäre eine Konservierung/Restaurierung ganz klar einer Neuproduktion vorzuziehen, denn nur sie erhält diese alle integralen Elemente der ursprünglichen Arbeit.
Reflektieren wir heute den ständigen technologischen Fortschritt des Digitaldruckes, kann man diesen analog zur technischen Entwicklung in den 1920er/1930er Jahren sehen. Damals wie heute unterliegt die Fotografie einem stetigen und schnelllebigen Wandel. Würden heute alle beschädigten Werke neu produziert, wie zum Beispiel farbveränderte chromogene Farbabzüge oder beschädigte Face-Mounted-Arbeiten und die jeweiligen „Vintage Prints“ entsorgt, weil sie nicht restaurierbar scheinen, wird es nachfolgenden Generationen nicht mehr vergönnt sein, in der Zukunft die Patina solcher Materialien aus den 2020er Jahren oder so manch anderen historischen fotografischen Prozess zu bestaunen. Denn eines Tages können diese Arbeiten im Schadensfall nur noch restauriert werden, auch wenn die Restaurierungsmaßnahmen immer sichtbar sein werden und eine Neuproduktion unter rein ästhetischen Gesichtspunkten vielleicht befriedigender wäre. Die zeitgenössischen Fotografien von heute sind die „Vintage Prints“ von morgen. Umso wichtiger, dass derartige Materialien erhalten bleiben.
Die großartigen Werke von Anthony Hernandez im obsoleten Verfahren des Ilfochrome werden Ende dieses Jahres ab 6.11.2021 im Sprengel Museum Hannover in der Ausstellung „TRUE PICTURES? – Zeitgenössische Fotografie aus Kanada und den USA“ zu bewundern sein.
Kristina Blaschke-Walther
…ist Restauratorin für Fotografie am Sprengel Museum Hannover
BU: Anthony Hernandez, Ohne Titel (Pipes), aus: Landscapes for the Homeless, 1991