„Partizipation“ ist nicht gerade das Zauberwort im Umgang mit Fotografie – schließlich hängt das fotografische Bild gerahmt (ggfs. sogar noch unter einem Passepartout-Karton) an der Wand. Aber dieses Verständnis des Mediums ist natürlich (leicht) antiquiert und gilt nur noch jenen Romantikern als Ideal, denen der Kontext der Kunst und der digitalen Technik als spätmodernistische Verfehlungen gelten. Und was sollen diese neumodischen, akademischen Begriffe?
Aber Spott beiseite: natürlich darf man heute immer noch mit drei geschulterten Spiegelreflex-Kameras durch die Welt laufen, auf der Straße Schnappschüsse machen und sie später im selbst eingerichteten Labor entwickeln. Aber muss mich das als Kunst-Historiker oder gar -Theoretiker interessieren? Die „Aura“ wird schließlich von der Institution verliehen – oder?
Ganz so drastisch muss es nun wirklich so sein, denn die oft zitierte, inhaltlich bei ihrem vermeintlichen Urheber Walter Benjamin tatsächlich schillernde, nur scheinbar eindeutige Kategorie der “Aura” ist keineswegs allein an das Museum gebunden. Das demonstriert soeben sehr schön eine ortsspezifische Arbeit des Luxemburger Fotografen Daniel Wagener (*1988) in der Chapelle de la Charité in Arles. Ein Hinweis auf die Kirche als Vorläuferin des Museums?
Kann man so sehen, aber in diesem Fall ist eine institutionskritische Lesart vielleicht doch nicht der wirklich entscheidende Punkt bei der (wohl gemerkt: leibhaftigen) Erfahrung dieser Arbeit, die den Titel „Opus Incertum“ trägt. Zugegeben, mein Lateinunterricht liegt schon ein paar Jahre zurück, doch der am Eingang des Raumes angebrachte Einführungstext der Kuratorin Danielle Igniti schafft wirklich Abhilfe beim Verständnis: Es handelt sich hier nämlich um einen „Begriff, der dem römischen Mauerwerk entlehnt ist, das aus kleinen Blöcken, zerbrochenen Fliesen und verschiedenen Ziegeln besteht – hinterfragt der Künstler die Erinnerung an die Zeit und den sozialen und funktionalen Wandel der Chapelle de la Charité, des religiösen Gebäudes.
Der Künstler hinterfragt die Erinnerung an Zeit und Ort sowie die sozialen und funktionalen Veränderungen der Chapelle de la Charité, dem religiösen Gebäude und Gotteshaus, in dem er sein Werk ausstellt. Er versucht, die Schichten, die sich gebildet haben, freizulegen und den Ort mit der Gegenwart zu verbinden.“
Wageners Installation besteht aus konstruierten Wänden und Regalen. Sie sind, wie man nicht nur liest, sondern nach wenigen Schritte auch sieht, „gefüllt mit Bildern von zeitgenössischen Baustellen, Stadtansichten, Spuren von Gebäuden aus Vergangenheit und Gegenwart.“
Und nun kommt die eingangs beschworene Partizipation ins Spiel. Denn als Besucher*innen dürfen wir dabei nicht nur sehen, sondern vom Stapel der Prints Bilder als give-aways mit nach Haus nehmen – das kennen wir ja spätestens von Felix González-Torres -, und sind zudem aufgefordert mit mehreren Bilderwagen größere Fotos durch die Gegend zu fahren. Man mag das als eine infantile, da allzu schlichte Form der Partizipation kritisieren. Aber man kann es auch so wie Igniti sehen, die in der Beteiligung an den „Bauarbeiten“ mehr als nur eine symbolische Handlung erkennt. Es geht in gewisser Weise um einen Nachvollzug historischer Arbeit.
Wie auch immer: mit dem Eindringen der Fotografie der Kunst sind wir gefordert auch neue begriffliche Kategorien der Bild-Erfahrung zu berücksichtigen – spätestens seitdem das fotografische Bild in den siebziger Jahren auch zum Objekt werden kann. Ob das jede*r will, sei dahingestellt. Man kann sich in der Vergangenheit der Fotografie verstecken oder ihre aktuelle Gestalt nutzen um Vergangenheit wieder zu beleben.
Stefan Gronert
…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover