Tektonik der Erinnerung: Christian Borchert im Sprengel Museum Hannover

Nicht jeder wird ihn kennen, obgleich er zu Lebzeiten durchaus kein unbeschriebenes Blatt war: Christian Borchert (1942-2000). Mit seinen fotografischen Beobachtungen unspektakulärer Alltagsmomente verwies er in der ideologiegesättigten Atmosphäre der 1980er-Jahre in besonderer Weise auf Möglichkeiten künstlerischer Integrität. In seinem von einem hohen zeitgeschichtlichen Bewusstsein getragenen Werk liegen archivarisch-dokumentarische und künstlerisch-poetische Strategien nahe beieinander.

Seit Mitte der 1950er-Jahre fand der Fotograf seine Motive vor allem in seiner Geburtsstadt Dresden und in Berlin. Hierher war er 1968 nach einem Ingenieur-Studium, einer Tätigkeit als technischer Leiter an der Deutschen Hochschule für Filmkunst, Potsdam Babelsberg, und einer Ausbildung als Fotograf in Potsdam gezogen und hatte, neben einem Fernstudium Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, sechs Jahre als Bildreporter für die wöchentlich erscheinende Neue Berliner Illustrierte gearbeitet.

Mit einem umfangreichen Projekt zu Künstler*innenporträts markierte Christian Borchert dann im Jahr 1976 einen radikalen Bruch in seinem bisherigen Selbstverständnis als Fotograf. Ein von bildjournalistischen Vorgaben unabhängiges Arbeiten ermöglichte ihm der Auftrag zu einer Langzeitdokumentation des Wiederaufbaus der Semperoper Dresden. Freundschaften mit Lyriker*innen und Schriftsteller*innen wie Elke Erb (*1938) oder Richard Pietraß (*1946) schärften die eigene Auseinandersetzung mit poetischer Bildlichkeit. Neben den Alltagsbeobachtungen ist es vor allem das umfangreiche, systematisch angelegte Langzeitprojekt der „Familienporträts“ und sind es Publikationen zur jüngeren Geschichte seiner Geburtsstadt Dresden sowie zum Literaturwissenschaftler Victor Klemperer (1881-1960), die wesentlich Strahlkraft gewannen.

In den 1990er-Jahren schließlich entstand „Tektonik der Erinnerung“, ein fotografisches Porträt seiner Geburtsstadt als ein Brennglas jüngerer deutscher Geschichte. Nach vierjähriger  Forschungsarbeit von Bertram Kaschek für das Kupferstich-Kabinett Dresden, die zu einer Publikation führte, die in unserem Blog bereits von Florian Merkel vorgestellt wurden ist,  ist Borcherts Werk nun in einer Ausstellung im Sprengel Museum Hannover noch bis 20. September zu sehen.

Als eine besondere Form der Vermittlung sind in der Ausstellung, aber auch unabhängig davon einige Statements von Hanns Zischler, Angela Lammert, Andreas Rost u.a. zu Borchert und seinem Umfeld in Form von “SMH Bilderwanderungen” auf der Plattform Vimeo akustisch abrufbar.

BU: Christian Borchert, Schlossruine am Theaterplatz, 1980, Silbergelatineabzug, 29,6 x 39,7 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, © SLUB Dresden / Deutsche Fotothek