Rezeptionsprobleme der Moderne? Kleine Provokationen zu Blindstellen der Fotogeschichte

Man kennt diese Erfahrung von Besuchen einiger gut ausgestatteter Museen im deutschsprachigen Raum, in Frankreich, den Niederlanden, USA und manch anderen Ländern: Wenn man die Institution verlässt, wähnt man sich im Glauben soeben wieder ein Mal die Malerei der Moderne im Schnelldurchgang passiert zu haben. Da waren doch Picasso, Matisse, Kandinsky, Klee, Beckmann, Dix etc. (Künstlerinnen eher weniger)

Warum sich so etwas im Umgang mit der Fotografie der klassischen Moderne so gut wie niemals ereignet, hat nicht nur mit der verspäteten Sammeltätigkeit der meisten Museen, sondern auch mit (berechtigter) konservatorischer Strenge zu tun. Dem mangelnden historischen Wissen scheinen nur Reproduktionen abhelfen zu können – in Bilderbüchern oder mit Modern Prints in den Museen. Letzteres mögen die Material-verliebten Restaurator*innen freilich gar nicht. Ob zu Recht oder Unrecht, das sei später einmal eigens diskutiert. 

Wie aber nun sieht es im Bereich der Nachkriegskunst aus? Erneut schwierig im Hinblick auf die künstlerische Fotografie. Vereinfacht gesagt, gab es die in Deutschland bis in die siebziger Jahre nämlich nicht mehr. Wieso? Diese Frage wird von der Geschichtsschreibung in der Regel galant umgangen. Der Hinweis auf den nationalsozialistischen Terror und seine Vereinnahmung des Mediums bringt weitere neugierige Nachfragen meist umgehend zum Erliegen. Muss aber ein ganze Bildform, die auch nach der Etablierung der beiden deutschen Staaten sogar recht schnell eine Renaissance erlebte, wie wir spätestens seit Jörn Glasenapps lediglich kunsthistorisch desinteressierter Studie „Die deutsche Nachkriegsfotografie. Eine Mentalitätsgeschichte in Bildern“ (2008) wissen, denn sogleich aus dem Kunst-Diskurs verbannt werden? Das galt doch weder für die Architektur noch für die Bildhauerei, die in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht minder funktionalisiert wurden. Gab es nicht dennoch Anknüpfungsversuche an die hehre Moderne in der Fotografie der Nachkriegszeit?

Selbst wer nur einen knappen Überblick in die vorhandenen kurzen Fotogeschichten gewagt hat, wird diese rhetorische Frage schnell mit „sehr wohl“ beantworten können. Sofern man den Märchen von einer „Stunde Null“ nicht erliegt, haben die Beflissenen die Namen Steinert und Becher als Repräsentant*innen zweier unterschiedlicher Ansätze schnell parat. In der Literatur (welcher eigentlich?) werden sie seit den siebziger Jahren stets genannt. (Im Blick auf die ostdeutschen Verhältnisse muss man schon eingehender studieren.) Als eines der interessantesten, in Bezug auf seinen Umfang freilich limitiertes Überblickswerken sei an dieser Stelle übrigens auf Volker Kahmens 1973 publiziertes, leider oft ignoriertes Buch „Fotografie als Kunst“ hingewiesen. Da haben wir es also doch: Die sich selbst mit dem eigentlich redundanten Begriff „subjektiv“ charakterisierende Richtung unter der Führung des Meisters aus Saarbrücken (mit bekanntlich keineswegs unschuldiger Biografie in den Dreißigern). Und zweitens das Potsdam-Siegener Paar, welches die bis in die siebziger Jahre vergessenen Bloßfeldt, Sander, Renger-Patzsch und Konsorten bewunderte und ebenso eigenwillig wie zeitgemäß in ihre Gegenwart übersetzte. Erinnert sei ferner an die Wiederentdeckung einer bis dahin weitgehend vergessenen Moderne durch die Kölner Galerie-Pioniere Ann und Jürgen Wilde. Sie unterzogen, man glaubt es kaum, den einst kaum mehr bekannten Schriften von Walter Benjamin, Franz Roh und anderen einer Relektüre. So einfach war’s anscheinend! Und seit den Siebzigern ist alles wieder in Ordnung, der erzählerische Anschluß an die unterbrochene Fotogeschichte scheint wieder hergestellt.

Einspruch! Wieso wird die Moderne hier auf nur zwei Tendenzen beschränkt? Was ist mit den experimentellen Ansätzen eines Man Ray, Christian Schad oder Moholy-Nagy? Knüpfte denn – mit Ausnahme der Gruppe “Fotoform” – in der Nachkriegszeit sonst niemand an diese Historie wieder an? Und was ist mit der Rolle des Kunsthandels? Kann alles, was nicht im Netz der Wildes und wenig später auch von Schürmann, Kicken und Pauseback ging, als verloren gelten? Gern vergisst man, dass es tatsächlich noch einige Jahre früher eine reine Fotogalerie in Deutschland gab: 1965 bis 1968 existierte sie unter dem Namen Clarissa in Hannover und konzentrierte sich weitgehend auf experimentelle Ansätze. Genau diese aber gingen dann mit den beiden einflußreichen Documenta-Ausstellungen 1972 und 1977 nahezu komplett unter und gerieten so über Jahrzehnte in Vergessenheit. Welche Mächte haben hier gewirkt?

Die deutsche Fotografiegeschichte des 20. Jahrhunderts enthält noch einige Blindstellen. Sie langsam einmal zu erhellen, ist ein Desiderat.

Stefan Gronert

…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover   

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