Die Geschichte der Fotografie lässt sich doch ganz einfach zusammenfassen: Erfunden wurde sie 1839 – denn in jenem Jahr hat Louis Daguerre das Patent des französischen Staates für diese technische Apparatur erhalten. Eine mögliche Vor-Geschichte der Fotografie erweist sich jedoch als äußerst unscharf: Denn wann ist ein technisches Bild bereits ein Foto? Ist nicht schon der nachgezeichnete Schattenwurf ein solches? Und hat nicht schon der Erfinder Leonardo da Vinci mit seinen optischen Studien Vorformen der Fotografie entdeckt?
Schauen wir nicht hinter die juristisch legitimierte Geburtsstunde zurück, sondern von 1839 nach vorne: Es gab im 19. Jahrhundert schnell noch viele technische Varianten. Darüber hinaus war der Wettstreit mit der Malerei in mehrfacher Hinsicht ein permanentes Thema, was in Bezug auf die Bildsprache z.B. in die piktoralistische Fotografie mündete: gezielte Unschärfe als vermeintlich künstlerische Zauberformel. Die manuelle Kolorierung ist ein weiteres Phänomen jener Zeit.
Zu Beginn des 20. Jahrhundert änderte sich vieles: Die „realistische“, dokumentarische Fotografie obsiegte zunächst, triumphierte durch geschickte Kompositionen und kürzere Belichtungszeiten. Im Zeitalter der Moderne kam die Fotografie schließlich wirklich in der bildenden Kunst an: experimentelle Verfahren wurden gezielt eingesetzt, somit also medienreflexive Elemente. Diese Tendenzen wurden durch das Phänomen der Collage nur scheinbar konterkariert, denn tatsächlich ging es nicht allein um gattungsübergreifende Aspekte, sondern verstärkt auch um andere Funktionen des Fotografischen, etwa um politische Inhalte.
Dann kam der zweite Weltkrieg: Die propagandistische Funktion der Bildform diskreditierte diese im ästhetischen Kontext, sodass ihre dortige Wiederentdeckung – nach diversen vergeblichen Formen der Revitalisierung – bis zu den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts dauerte. Der nächste Umbruch erfolgte kurz vor der Jahrtausendwende als die Digitalisierung auch dieses Mediums erreichte, ihre künstlerische Dimension quantitativ erneut ins Abseits drängte, aber im Kunstkontext erhalten blieb, aber zu entscheidenden inhaltlichen Wandeln führte.
So oder ähnlich könnte man eine Entwicklungsgeschichte der (künstlerischen) Fotografie für die lesefaule Wikipedia-Generation schreiben. Aber ist diese im Detail fehlerhafte und zudem schlicht chrono-logische Erzählweise wirklich mehr als Geschichtsschreibung für Naive? Dass Geschichte ein komplexeres Phänomen ist, keineswegs nur linear begreifbar wird, sollte man nicht länger erläutern müssen. Also: wie schreibt man Foto-Geschichte?
Eins ist klar: Beaumont Newhalls einflussreiche, erstmals 1937 publizierte „Histoty of Photography“, die mit amerikanischer Optik durch seine zahlreichen Auflagen auch mehrere Veränderungen erlebte, kann nicht mehr das Modell einer zeitgemäßen Geschichtsschreibung eines multiplen Mediums sein. Während sich in Europa, und besonders im deutschsprachigen Lande, Walter Benjamins Essays aus den dreißiger Jahren vierzig Jahre später als politisch unverdächtige Krücken erwiesen haben, um einen Neuanfang der Geschichtsschreibung des Mediums zu motivieren, stagnierten diese Versuche tatsächlich lange Zeit in der Orientierung am Leitstern Roland Barthes. Aber nicht erst seit gestern fragt sich der spät erwachte akademische Diskurs, ob denn diese soziologisch imprägnierten „Ergebnisse“ ausreichend sind. Die verdienstvolle Erweiterung um weitere Quellensammlungen – Theorie- und Rezeptionsgeschichte sind zweifellos wichtige Bestandteile der Historiografie – reichen als Materialien ebenso wenig, zumal sodann die Bild-Geschichte aus dem Blick zu geraten droht.
Nicht zu vergessen ist auch, dass Ausstellungen als Orte der Geschichtsschreibung zunehmend ins Bewusstsein treten sollten. Dazu zählt auch, diese Werbung in eigener Sache sei erlaubt, der Umstand, dass im Sprengel Museum Hannover im vergangenen Jahr mit der Ausstellungsreihe „Kleine Geschichte(n) der Fotografie“ in der nur halb ironischen Absetzung von Benjamin eine fragmentarische, aber visuelle Form der Historiografie qua Ausstellung versucht wurde (https://www.kleinefotogeschichten.de/) – sie wird im Februar 2020 mit Teil 2 fortgesetzt.
Die vielfältigen Dilemmata einer Geschichtsschreibung sind erkannt und werden spätestens im 21. Jahrhundert immer deutlicher formuliert. Trotzdem kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die konstruktiven Ansätze auf der Strecke bleiben. Deshalb sei an dieser Stelle auf einen experimentellen Ansatz in der Lehre hingewiesen. Denn im Anschluss an ein Seminar im vergangenen Winter an der Folkwang Uni Essen unter Leitung von Steffen Siegel sind ebendort seit kurzem im Quartier Nord des Zollverein-Geländes einige Ergebnisse von Studierenden zum Thema der Problematik der Geschichtsschreibung von Fotografie auf Plakatwänden zu sehen (s. obige Abbildung). Man folgt dort dem Modell kanadischer Wissenschaftler aus dem Jahr 2018: https://ryersonimagecentre.ca/exhibition/collaborate/
Wie weit das führt, ist noch nicht ausgemacht, aber alternative Versuche sind in jedem Fall zu begrüßen. Und auch Siegel selbst hat soeben eine mögliche Fotogeschichte aus dem Geist des Fotobuches ins Auge gefasst – das entsprechende Buch zum Thema wird in Kürze in diesem Blog noch eingehender vorgestellt. Konstruktive Ansätze im Umgang mit einem Problem.
Stefan Gronert
…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover
„Ein Geschichtsschreiber hat es nicht mit dem, was wirklich geschehen ist, zu tun: Sein Thema, die sogenannte Weltgeschichte [hier könnte man auch Fotogeschichte einsetzen], sind Meinungen über vermeintliche Handlungen und deren vermeintlichen Motive, welche wieder Anlass zu Meinungen und Handlungen geben.“ (Nietzsche) Auch die Fotogeschichte wird so immer nur subjektiv erzählt werden können. Von der Idee einer Wahrhaftigkeit weit entfernt. Dennoch ist der Versuch lobeswert, eine Folge von technischen, sozialen und kulturelle Ereignissen (nach) zu konstruieren, die den Verlauf der Fotografie nachspüren. Auch hier werden die technischen, kulturellen und künstlerischen Praktiken, die sich durchgesetzt haben das Bild er Fotografie-Geschichte bestimmen. Die „Verlierer“ zu beleuchten wäre sicher sehr Interessent um die Diversität der fotografischen Praxis nicht zu vergessen.