Bild-Macht: Warum man diesmal wirklich zur Biennale fahren sollte

Fotografie und Venedig? Beinahe indigniert wendet sich das museal verwöhnte Sensibelchen ab und schüttelt nur den Kopf. Ausgewogene Klimawerte und ein besonderes Faible für die so genannten neuen künstlerischen Medien zählten bislang nicht wirklich zu den herausragenden Merkmalen des italienischen Ausstellungswesens. Und dennoch gerät in diesem Jahr ein Besuch der Lagunenstadt fast zur Pflicht-Veranstaltung für Fans der Fotografie und Gegenwartskunst.

Während in Kassel der um 1990 implodierte Ost-West-Gegensatz die historische Legitimtät des führenden westlichen Ausstellungsereignisses verloren gegangen ist und in diesem Jahrtausend die Hegemonialmächte diese durch den vorgeblich besänftigenden Anspruch auf Globalisierung (klingt schöner als „kultureller Neokolonialismus“) ersetzt haben, hat die Biennale di Venezia ihren Grund schon viel früher verloren. Nichtsdestotrotz fährt man (oder Frau) jedes zweite Jahr zum traditionellen Marktplatz der Gegenwartskunst und ergötzt sich hedonistisch an der morbiden Dekadenz des nicht untergehen wollenden Tourismus-Magneten Venedig, an dessen imperfekten Charme selbst die Nachbildungen in Disneyland nicht heranreichen. In diesem Jahr darf man sich aber nur wundern: Denn der Biennale gelingt ein großer Blick auf die Bild-Macht im 21. Jahrhundert.

Wird eben dieser Anspruch in Kassel seit mehr als zwanzig Jahren regelmäßig verfehlt, so dass nur noch die grandiosen Besucherzahlen die (stromlinienförmig) kritisch formulierten Ziele überforderter Kuratoren legitimieren mögen, verzichtet die diesjährige Biennale auf eine großspurige These. Hier genügt der allenfalls parodistisch, inhaltlich aber kaum aussagekräftige, eher nebulös klingende Titel „May you live in interesting times“. Unter diesem großzügigen Wunsch kann man sich alles und nichts vorstellen – aber kein wirkliches Konzept. Und vielleicht ist es eben das: Es geht nicht um die große These oder den verfehlten kuratorischen Anspruch durch eine politisch wirksame Ausstellung die Welt neu erfinden oder gar retten zu wollen. Bei der 58. Biennale di Venezia steht wohl primär die Präsentation zeitgenössischer, qualitativ hochwertiger Kunst auf breiter internationaler Ebene im Mittelpunkt. Hier wird Bild-Macht zelebriert!

Und welchen Stellenwert, so mag sich der durch Scheuklappen beschränkte Gattungs-Liebhaber fragen, spielt die Fotografie bei diesem Festival? Wurde ihr – zumindest in Bezug auf ihre geringe Markt-Präsenz – nicht noch unlängst das Attest einer „Krise“ ausgestellt? Die per Status problematischen nationalen Pavillons der venezianischen Giardini bestätigen die Irrelevanz der Fotografie zunächst auch: Dort sind es weitgehend filmische und installative Beiträge, die dominieren, obgleich in den seltensten Fällen überzeugen. Nicht von ungefähr brilliert der zu Recht mit einem Goldenen Löwen ausgezeichnete litauische Pavillon des Künstlerinnen-Trios mit den schwer memorierbaren Namen Rugile Barzdziukaite, Vaiva Grainyte und Lina Lapelyte mit einer performativen Meisterleistung, die von einer Opern-Aufführung kaum mehr unterscheidbar ist.

Eine Art Wiederauferstehung der Fotografie erlebt jedoch, wer sich der ästhetischen Opulenz der Präsentation von Ralph Rugoff, Direktor der Londoner Hayward Gallery, verantworteten Übersichtsausstellung im Arsenale sowie im Zentralpavillon der Giardini hingibt. Durch die unterschiedlichen Medien hindurch zieht sich durch diese Präsentation subkutan eine Bild-Macht, die keinem bloßen Ästhetizismus huldigt, sondern die visuelle Präsenz durchaus mit politischen und/oder gesellschaftlichen Kontext verbindet. Nach einem Auftakt mit einem starken Gemälde von George Condo stößt man im Arsenale sogleich auf eine lange Reihe des bislang immer noch unterschätzten Fotografen Anthony Hernandez, dem dann die auf nackten Spanplatten groß tapezierten Formate der Südafrikanerin Zanele Muholi (s. Abbildung) folgen. Es sind dabei vielfach eben nicht die vom Kunstmarkt bekannten Namen (Ausnahme vielleicht Stan Douglas), sondern starke Auftritte wie die der Inderin Gauri Gill, der Norwegerin Frida Orupabo, der Japanerin Mari Katayama und nicht zuletzt auch Martine Gutierrez ist eine überraschende Neuentdeckung. Man bemerke: alles Frauen! Rugoff erwähnt die überfällige Geschlechtergleichheit nicht eigens und muss es augenscheinlich auch gar nicht: Qualität spricht für sich. Das heißt umgekehrt selbstredend nicht, dass alle Beiträge von Männern minderwertig seien, wie man im Falle von Kahlil Joseph, Apichatpong Weerasethakul oder Soham Gupta sieht. Aber: Schon mal gehört diese Namen? Die populäre Garde der Großgalerien bleibt außen vor, so dass sich neue qualitative Ansätze in der Fotografie zeigen, die in der übervollen Dichte des Zentralpavillons dann leider etwas erschlagen werden.

Wie auch immer: Wer sich einen Eindruck über die künstlerische Bild-Macht der Gegenwart machen möchte, sollte diesmal (bis zum 24.11.) wirklich nach Venedig gefahren sein.

 

Stefan Gronert

…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover