Die Schönheit der Reflexion – Viktoria Binschtok im Oldenburger Kunstverein

Das Prinzip Collage ist das Paradigma des Bildes im digitalen Zeitalter. Dies gilt nicht nur für Papierarbeiten im engeren Sinne, sondern auch für künstlerische Fotografie. Letztgenanntes Medium begegnet darüber hinaus auch oft als konkretes, dreidimensionales Objekt.  

Diese beiden Eigenschaften charakterisieren grundlegend auch den Werkbegriff der Berliner Fotografin Viktoria Binschtok, die in den vergangenen Jahren zudem eigenes Bildmaterial mit Fundstücken aus dem Internet zu „Clustern“ kombiniert oder in ähnlich anmutende „Networked Images“ überführt. 

Das mag den Kenner*innen der Gegenwartskunst nicht unbekannt sein, doch in ihrer Ausstellung im Kunstverein Oldenburg (bis 24.4.2022) überrascht sie nicht zuletzt mit einer bereits 2004 in Tokyo entstandenen Bildreihe „Three People On The Phone“, als schwarzweiße Siebdruck präsentierte Fotos, die das zeigen, was der Titel ankündigt: Mindestens drei Personen, die im urbanen Raum mit ihrem Smartphone beschäftigt sind. Schon verblüffend, dass diesen erstmals ausgestellten Bildern bereits 18 Jahre später eine Aura des Historischen anhaftet. Das liegt am gezeigten Gegenstand, denn das Mobiltelefon war zu jener Zeit noch nicht so smart wie spätestens infolge der Einführung des iPhones drei Jahre nach Entstehung dieser Bild-Reihe, welche also schon früh Binschtoks Reflexion der digitalen Gesellschaft ankündigt. 

Die Präsentation von neun Bildern der Reihe „Three People On The Phone“ auf schwarzer Wandfarbe bestätigt am Ende der Ausstellung das, was man am dessen Anfang bereits unmittelbar erfährt: die Betonung des installativen Momentes. Die Frage nach dem Display umkreist Viktoria Binschtok in mehreren Foto-Objekten, die zunächst in „Red Wine Man“ (2019) auf die Spitze getrieben wird. In diesem Bild sind die Rahmen der zweiteiligen Arbeit regelrecht ineinander verkeilt. Im gleichen Jahr entstand „Chocolate Girl“, bei dessen Präsentation zwei Kallax-Regale von Ikea als Träger einen annähernd freie Positionierung im Ausstellungsraum ermöglichen, hier sogar einen Durchgang versperren bzw. produktiv füllen. Der neugierige Blick der schräg positionierten Betrachtenden verstärkt dabei sogar die Aufmerksamkeit für ein formales, genauer gesagt: ein lineares Moment, das alle Bilder von Viktoria Binschtok ohnehin durchzieht. 

Auf den Höhepunkt getrieben wird die Reflexion des Displays in der in Oldenburg erstmals gezeigten, ja für den Ausstellungsraum speziell entwickelten Arbeit „Proofs“ (Abb. oben). Auch in diesem Fall sagt der Titel sachlich, worum es sich handelt: Um diese aus der Produktion bekannten schmalen, länglichen Probedrucke, welche die Künstlerin augenscheinlich sorgfältig aufbewahrt sowie handschriftlich mit Datum und ihrer qualitativen Einschätzung versehen hat. Die monumentale Collage des Gesamtbildes suggeriert die Dynamik und Lebendigkeit des künstlerischen Schaffensprozesses, aber auch der visuellen Erfahrung dieser klug ausgewählten Bilder, welche selbst aus Bildern hervorgegangen sind. Das setzt sich auf der Ebene der Materialität fort, denn die sich vielfach rollenden Streifen sind ungeschützt (d.h. ungerahmt), nur mit Klebestreifen an der Wand befestigt. Ein fragiles, nur vorläufiges Sinnbild der Bilderflut, das der immanenten Logik der Position von Viktoria Bischtok folgt: Fotografische Installation und Installation mit Fotografie zugleich.

Insgesamt mag man sich im Blick auf ihren Ansatz die Frage stellen, ob die gleichzeitige Betonung der innerbildlichen Struktur wie auch des Displays die Abbildlichkeit der Fotografie nicht erst auf den zweiten Blick schon weitgehend unterminiert. Ein raffiniert vorgetragenes Fest für die Kritiker einer medialen Ideologie des Abbild-Denkens? Der latente Formalismus-Verdacht dieser Frage wird durch die Reste des Dokumentarischen in Binschtoks Bildwelt jedoch überzeugend entkräftet. Denn die überaus zeitgemäßen Motive sind in ihrer collagierten Präsentation unweigerlich auch Auslöser individueller Assoziationen. Das Gelingen dieser grazilen Balance von Ästhetik und gesellschaftlicher Reflexion ist nicht per se garantiert, artikuliert jedoch im besten Fall die außerordentliche Qualität der Arbeit von Viktoria Binschtok. Das zu erfahren lohnt den beschwerlichen Weg in den Nordwesten Deutschlands.

Stefan Gronert

…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover

 

BU: Viktoria Binschtok, Proofs, 2022 (Foto: SG)  

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