Die Fotografie als Hydra? Timm Rautert im Museum Folkwang

Zu den (Wieder-)Geburts-Helfern der deutschen Nachkriegsfotografie zählt er nicht. Diesen Ruhm teilt sich sein Lehrer Otto Steinert mit Hilla & Bernd Becher sowie Gottfried Jäger. Doch nur dreieinhalb Jahre jünger als der Letztgenannte ist Timm Rautert zweifellos eine der wichtigsten Figuren für die folgenden und nachfolgenden Foto-Generationen in Deutschland. Das beweist der Blick in den 2003 erschienen Katalog „silver & gold“ der damals bereits fünften Ausstellung der Leipziger „Klasse Rautert“ (wohlgemerkt nicht: Schule), die mit Adrian Sauer, Tobias Zielony, Sven Johne, Ricarda Roggan und Viktoria Binschtok fast schon ein „who is who“ der aktuellen Fotografie ankündigt.  

Rautert ist also unbestritten eine zentrale Figur der deutschen Fotografie. Ihm unter dem Titel „Timm Rautert und die Leben der Fotografie“ in seinem Wohnzimmer, dem Essener Folkwang Museum (bis 16.5.2021), eine Retrospektive zu widmen, scheint nicht allein mit Rücksicht auf sein Geburtsjahr 1941 eine beinahe schon zwingende Tat – selbst wenn seine letzte Retrospektive erst vor zwölf Jahren in Bonn endete und man nun vielleicht gar nicht viel Neues erwarten durfte. Doch der zunächst so ungelenk anmutende Ausstellungstitel verweist auf eine tatsächlich passende, letztlich sogar überraschende Präsentation, die Thomas Seelig in vorbildlicher Weise kuratiert hat. 

Ebensowenig linear wie die Geschichte der Fotografie des letzten halben Jahrhunderts verläuft nämlich auch das Werk von Rautert. Neben den vermeintlich „subjektiven“, dann aber auch den bereits legendären bildanalytischen Ansätzen des Frühwerks der siebziger Jahre stehen mehr oder weniger soziologische Erkundungen von Städten und Orten, die wiederum parallel zu Auftragsarbeiten für Magazine wie „Geo“ oder das „Zeit-Magazin“ stehen. Dass dies auch so präsentiert wird, also die journalistische Arbeit neben der künstlerischen gezeigt wird, ist eine besondere Leistung der Ausstellung, welche die mehrdimensionale Qualität des Oeuvres von Rautert klug betont.

Der zweite Teil des verwinkelten Parcours rückt sodann – neben der fotografischen Thematisierung von Technik und industriellen Arbeitsformen in den achtziger Jahren – das Porträt in den Mittelpunkt. Und natürlich sticht der Vergleich der schwarz-weißen wie auch farbigen Varianten der berühmten Reihe „Deutsche in Uniform“ hier hervor. Dagegen verblassen die extrem unterschiedlichen, entsprechend auch wild auf der Wand verteilten Porträts von Prominenten und Freunden, während die bislang (mir zumindest) nicht bekannten Selbstporträts aus verschiedenen Jahren erneut ein überraschendes Highlight der Ausstellung markieren.

Ob man im Übergang zum Jahr 1993, dem Antritt von Rauterts Leipziger Professur, das vermeintliche „Spätwerk“ wirklich unbedingt eine musikalisch etwas dramatisch untermalte Videoprojektion anschauen muss, sei dahin gestellt. Die Reihe der vergleichsweise großformatigen „Koordinaten“, einer Kombination von bildanalytischen und werktechnischen Bildern, überzeugt da wesentlich mehr. Wer aber nun glaubt, dass Rautert sich in den folgenden Jahren dem mainstream des Großbildes anschließen würde, sieht sich getäuscht und trifft in der abschließenden Sektion der Ausstellung auf ein erneut nicht aufgrund seiner Vielfalt erstaunliches Schaffen, das unter dem sprechenden (?) Titel „Artwork“ firmiert. 

Nach 2000 sind es vor allem die Collagen, die das konventionelle Wiedererkennen eines Rautert-Fotos erfreulicherweise noch einmal erschweren. Sie besetzen, dies belegt zudem eine zeitgleiche Ausstellung in der Kölner Galerie Sandro Parrotta, freilich die Rolle eines bescheidenen historischen Mitläufers, der sich bislang wohl nicht in den Vordergrund drängen wollte. Dass diese Collagen es freilich wert sind, belegt unter anderem das oben abgebildete „Mona Lisa“ von 2010 – selbstredend ein Unikat, das sich leider in einer prominenten Privatsammlung versteckt. Die Frage nach der Fotografie hat sich hier unzweifelhaft in diejenige nach der Kunst gewandelt. Auch wenn das Medium keinem Ungeheuer ähnelt: viele Köpfe hat es immer wieder geboren. Und insofern wird abermals klar, dass die verschiedenen Gesichter des Gesamtwerks von Timm Rautert in Parallelität (nicht: Identität) zum Verlauf der neueren Fotogeschichte in Deutschland gesehen werden können. Ein solches Prädikat kann man wahrlich nicht jedem Werk anheften. 

So erfreulich es ist, dass man diese blendende Ausstellung während des Regimes des Virus überhaupt vor Ort sehen kann (oder konnte), so bedauerlich ist das Fehlen eines Ausstellungskataloges, den man im unmittelbaren Anschluß an den Besuch gern gelesen hätte. Immerhin 520 Seiten kündigt uns ein nicht unbekannter Göttinger Verleger zum Thema an. Aber da der Verkauf über den nicht systemrelevanten, ergo geschlossenen Laden des momentan nur virtuell existenten Buchhändlers Walther König im digitalen Modus erfolgen muss (!), stellt sich nach der Freude an den Originalen der bekannte Pandemie-Frust umgehend wieder ein. Nur ein kleiner Wermutstropfen an der B 224. 

Stefan Gronert

…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover

 

BU: Timm Rautert, Mona Lisa, 2010 (mit unfreiwillig gespiegeltem Betrachter vor Ort) 

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