Unser drittes Auge: Enzensbergers Welt der Fotografie

Das Problem vieler bisheriger Fototheorien lag und liegt darin, dass ihre Urheber dort (noch) Probleme sehen, die längst in andere Dimensionen überführt worden sind. Ist beispielsweise die uralte Frage „Fotografie und/oder/als Kunst“ heute nicht längst überholt oder gehört diese Fragestellung immer noch ins 21. Jahrhundert? Und wenn ja, wie?

Über Fotografie kann heute tendenziell jeder schreiben, der einen Fotoapparat bedienen kann oder sich etwas mit der Natur von fotografischen Bildern beschäftigt hat. Ohne die Erfindung der Fotografie sähe die Welt heute mit Sicherheit anders aus. Wer so – scheinbar naiv – das Medium unserer Zeit befragt, dem ist vieles zuzutrauen. Hans Magnus Enzensberger unscheinbarer kleiner Text „Wohin mit der Fotografie“ (erschienen in: ders., Enzensbergers Panoptikum. Zwanzig Zehn-Minuten-Essays, Berlin 2012, S. 63 – 68) kann als ein lustvoller Kommentar zu bzw. Seitenhieb auf die bisherige Fototheorie gelesen werden. So setzt er in nur zwei knappen Sätzen eines der zentralen Dogmen der Fotografie außer Kraft: Es ist überhaupt unklar, was an einer Fotografie ‚echt’ sein soll. Schon weil das Medium prinzipiell keinen Unterschied zwischen Original und Kopie kennt, ist es in diesem Sinne mit seiner Glaubwürdigkeit nicht weit her.“ – Nun weiß man endlich, warum Fotografien so wunderbar lügen können.

Aber Enzensberger wäre nicht Enzensberger, wenn er im Kontext von Fragen an die Fotografie nicht auch eine eigene These wagen würde. Nicht zuletzt, so der Autor, gehe es um das Problem der „künstlich erzeugten Seltenheit“. Dieser Ausdruck überzeugt, weil er die Paradoxie, die seit den Anfängen der Fotografie über ihr schwebt, nicht verschweigt, sondern uns zu Komplizen des Autors macht. Was wäre die Welt ohne die Paradoxien, in die wir beim Betrachten von Fotografien verstrickt werden? Kann man über den Tellerrand der Fototheorie hinaus denken? Und wenn ja wie?

Enzensberger weiß auch hier Rat, indem er gleich zu Beginn seines Textes den verblüfften Lesern eine Denksportaufgabe stellt (oder sollte man besser sagen: eine Lektion erteilt?): „Es ist schwer, es ist fast unmöglich, sich vorzustellen, wie die Menschheit ihre Umwelt ins Auge gefasst hat, bevor es die Kamera gab. Sie ist unser allgegenwärtiges und unersättliches drittes Auge.“ Ohne Sprache, ohne die Fähigkeit des Betrachters eine Fotografie historisch zu kommentieren oder sie ihren eigenen Widersprüchen auszusetzen, würden Menschen Fotografien vielleicht so gegenüber stehen, wie die ersten Menschen, die 1969 auf dem Mond landeten.

Manchmal, das kann man mit Enzensbergers Text lernen, soll man die Probleme der Fotografie wohl einfach im Dorf lassen und versuchen über den Tellerrand der Theorie hinaus zu gelangen. Was Enzensbergers Text heute immer noch so attraktiv macht, sind nicht die bloßen Fakten, sondern die Chuzpe mit der er sich der Gegenwart eines Mediums vergewissert, das seit dem 19. Jahrhundert ihre Kunden wie kein Zweites irritiert und verblüfft hat.      

Michael Kröger

… ist freier Kurator und Autor

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