Wenn ich mir Deine Interessensgebiete anschaue, dann möchte ich sagen, dass Du Fotografie stets im gesellschaftlichen und/oder politischen Kontext betrachtest – einverstanden? Wie würdest Du das Spannungsfeld von Fotografie als Kunst und politischen Inhalten beschreiben?
Genau, mich interessiert die Rolle von Bildern in Machtdiskursen. In meiner Arbeit – als Wissenschaftlerin, Kunstkritikerin, Autorin und Lehrende – ist es mir deshalb immer ein Anliegen, kunsthistorische oder bildwissenschaftliche Diskurse gesellschaftspolitisch zu verschränken.
Das Spannungsfeld von Fotografie als Kunst und politischen Inhalten, wie Du es nennst, lässt sich auf viele verschiedene Arten beschreiben. In politischer und aktivistischer Kunst hat der Einsatz von Fotografie eine lange Geschichte. In meiner Dissertation habe ich mich beispielsweise auf die Rolle von operativen Bildern im Kunstfeld fokussiert. Das ist ein Begriff, der maßgeblich von dem Filmemacher Harun Farocki geprägt wurde und Bilder meint, die aus industriellen Produktionsabläufen, wissenschaftlichen Entscheidungsprozessen oder militärischen Entstehungskontexten stammen: Aufzeichnungen automatisierter Überwachung, strategische Karten, algorithmische Vermessungsdaten, Satelliten- und Drohnen- oder Raketenbilder etc. In meiner Arbeit untersuche ich, wie solche Bilder seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in einem aktivisch motivierten Kunstfeld genutzt werden, um Kritik an staatlichen Überwachungsstrukturen und ökonomischen Kontrollmechanismen zu formulieren. In Ausstellungen sollen diese Bilder oftmals von ihren ursprünglichen Entstehungskontexten erzählen, und werden deshalb häufig genutzt, um Aspekte des Faktischen und der vermeintlichen Authentizität in unterschiedliche Diskurserzeugungen zu implementieren.
In einem Aufsatz mit dem Titel „Instrumentelle und operative Bilder“ (in: Fotogeschichte 172: Vermessene Bilder. Von der Fotogrammetrie zur Bildforensik, hrsg. zus. mit Steffen Siegel) schreibe ich auch über den Wandel im (künstlerischen) Umgang mit solchen Bildern. Für einen Kritiker wie Allan Sekula etwa war die Analyse von Fotografien als Teil eines Wahrheitsdiskurses stets zentral – und damit auch deren Entmystifizierung. Seit geraumer Zeit findet meiner Beobachtung nach dahingehend ein Wandel statt: Gerade kunst-aktivistische Strategien bewegen sich vermehrt von der Dekonstruktion hin zur Aneignung operativer Bilder. Das hängt unter anderem mit der Infragestellung eines Ideals autonomer Kunst zusammen, und soll oftmals empowernd wirken. Bisweilen geht damit aber auch eine verkürzte Kritik an bildbasierten Machtstrukturen und eine Operationalisierung von Kunst selbst einher.
In meiner Arbeit treibt mich dementsprechend die Frage danach um, wie Fotografie und Kunst herrschende Gesellschaftsordnungen untergraben können – und, wie sie zu diesen beitragen.
Die Foto-Theorie als Gegenstand der akademischen Lehre an deutschen Hochschulen ist ja immer Nachtschatten-Gewächs, würde ich als Außenstehender behaupten. Wie siehst Du als ehemalige Studierende der Folkwang Universität der Künste und Mitarbeiterin der Universität Bremen? Gibt es da eine wachsende „Nachfrage“ seitens der Studierenden oder wird sich an diesem Status vorerst auch nichts ändern?
Spätestens seit meinem Studium an der Folkwang Universität der Künste in Essen – und später dann als Doktorandin in den Kolloquien von Steffen Siegel – stehe ich mit vielen Menschen mit fototheoretischem Interesse und Wissen im Austausch. Gerade die Folkwang ist schon ein besonderer Ort für Personen, die sich im akademischen Sinne, und interdisziplinär, für Fotografie interessieren. Mit Burcu Dogramaci hatte ich aber auch schon während meines Studiums der Kunstgeschichte an der LMU München eine Professorin, für die Geschichte und Theorie der Fotografie ein wichtiger Bestandteil derselben ist. Damals schien mir das Interesse an Fotografie bei meinen Kommiliton*innen zu wachsen. Auch während meiner Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Uni Bremen, wo ich bis vor kurzem tätig war, habe ich ein ausgeprägtes Interesse an Seminaren mit einem fotografischen Schwerpunkt wahrgenommen. Dabei ist mir auch deutlich geworden, wie intensiv und auf welch hohem Niveau die Auseinandersetzung mit Fotografie an der Folkwang Universität der Künste stattfindet.
Mein Eindruck ist: Als Teil eines Kanons der Medientheorie – Benjamin, Barthes, Sontag etc. – hat sich Fototheorie längst zu einem festen Bestandteil der universitären Lehre etabliert, auch über die Kunstgeschichte / Kunstwissenschaft hinaus. Zum Glück haben Studierende wie Lehrende meiner Erfahrung nach aber immer ganz unterschiedliche Schwerpunkte und Interessen. Schließlich leben Wissenschaft und akademische Lehre genau davon.
In meinen Augen ist die Selbstreflexion des Fotografischen als Gegenstand künstlerischer Werke besonders in den neunziger Jahren ein großes Thema gewesen. Wie ist Deine Wahrnehmung: Hat sich dieser Gestus der Selbstvergewisserung in der jüngsten Kunst mittlerweile erübrigt oder ist das ein Thema unter vielen geworden?
Ich denke, das schließt an meine Antwort auf die erste Frage an. Es gibt weiterhin viele Positionen, für die eine Reflexion des Fotografischen ein Gegenstand der künstlerischen Arbeit ist. Vordergründig scheint sich mir eine medienreflexive Praxis mittlerweile aber regelrecht habitualisiert zu haben, und steht oftmals nicht mehr so explizit im Fokus. Gegenwärtig geht es meiner Beobachtung nach häufiger vielmehr darum, eine politische Haltung zu formulieren, Kritik an gesellschaftlichen Zuständen zu vermitteln oder sogar unmittelbar gesellschaftspolitisch wirken zu wollen. Das ist angesichts von multiplen Krisen plausibel, begünstigt bisweilen aber Vereindeutigungstendenzen. Das ist vor allem dann zumindest fragwürdig, wenn mittels Bildern Konzepte von Objektivität, Authentizität, Echtheit, Glaubwürdigkeit oder Wirklichkeit reaktiviert oder behauptet werden.
Ich bin gespannt, wie sich das vor dem Hintergrund aktueller Diskurse um bildgenerative KI-Systeme zukünftig entwickeln wird.
Vielleicht gerade im Anschluss an meine vorherige Frage: hast Du in den letzten Monaten eine Neuentdeckung im Feld der Fotografie gemacht, die Dich total umgehauen hat?
Eine Entdeckung war beispielsweise die Serie „Deutsche Juden heute“ von Leonard Freed, der ich im Rahmen meiner Tätigkeit für den EMOP 2025 begegnet bin. Der US-Fotograf reiste Anfang der 1960er Jahre nach Deutschland und dokumentiere kleine, zurückgezogene jüdische Gemeinden im Land der Täter. Keine 20 Jahre nach der Shoah – die letzten DP-Camps waren gerade erst aufgelöst worden – begegneten diese Menschen ihren früheren Peinigern noch jeden Tag: im Bus, in der Bäckerei, bei der Arbeit. Für mich war diese eindrückliche Serie, die aktuell noch im Jüdischen Museum Berlin zu sehen ist, eine Entdeckung.
Ähnlich auch „Asservate“ (1995) von Naomi Tereza Salmon, über die ich bei der Ray Triennale 2024 gesprochen habe. Im Auftrag der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel fotografierte Salmon ab 1989 Relikte, die im Zusammenhang mit dem Holocaust stehen. In einer Tradition der kriminalistischen Bildsprache – ausgeleuchtet und frontal vor neutralem Hintergrund – dokumentierte sie Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs wie Brillen, Kämme, Rasierpinsel, Zahnbürsten etc. Aus der dokumentarischen Arbeit wurde eine Auseinandersetzung mit Spuren des nationalsozialistischen Terrors und der Frage danach, was die abgebildeten Objekte als forensische Beweisstücke des Verbrechens vom Grauen des eliminatorischen Antisemitismus zu erzählen vermögen. Nach dem brutalen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, als Überlebende im Wissen darüber, dass diese Verbrechen trotz der Livestreams der Terroristen geleugnet werden würden, bereits kurz nach den Anschlägen damit begangen, Zeugnis über die Massaker abzulegen, hat mich das sehr bewegt.
Eine jüngere Arbeit ist das Fotobuch „Passion Play“ (2023) von Regine Petersen, in dem die Fotografin ihre Rechercheergebnisse zur Verquickung von christlichem Antijudaismus und NS-Antisemitismus in der Inszenierung der Oberammergauer Passionsspielen 1934 präsentiert. Erschreckend aktuell zeigt das Buch mittels historischer Postkarten und Schriftstücken eindrücklich die hartnäckige Wirkmacht und das Modernisierungspotenzial eines der ältesten Verschwörungsmythen auf und betont die Rolle von Bildern in dieser – etwas, das auch für jüngere Verschwörungstheorien bisher noch viel zu wenig untersucht wurde.
Diese Beispiele sind aktuellen Forschungsschwerpunkten von mir zuzuordnen, Erinnerungskultur(en) und Antisemitismus: Seit Herbst arbeite ich in Frankfurt in einem Forschungsprojekt zu Antisemitismus in der Kunst. Dabei interessiert mich besonders, welche Rollen Fotografie und Kunst in heutigen Erinnerungskulturen spielen (können) – nicht, um Geschichte(n) abzuschließen, sondern Erinnernden im Sinne einer Mitautor*innenschaft und Mitverantwortung an öffentlicher Erinnerungspolitik einzubeziehen. In diesem Kontext freue ich mich auch auf ein Gespräch mit dem Künstler Leon Kahane im Rahmen des diesjährigen EMOP Berlin. Kahane schafft konzeptuelle Videoarbeiten, Fotografien und Installationen, für die Themen wie Migration und Identität und die Auseinandersetzung mit Mehr- und Minderheiten in einer globalisierten Gesellschaft zentral sind – sowohl alleine als auch gemeinsam mit Fabian Bechtle für das Forum für demokratische Kultur und zeitgenössische Kunst (Forum dcca). Mittels fotografischer Bilder lenkt Kahane die Aufmerksamkeit immer wieder auf Ereignisse, Institutionen oder die Provenienz von Bildern, in denen der Geschichte innewohnende Widersprüche zum Ausdruck kommen. Auf diese Weise macht er (Ge)Schichten sichtbar, und zieht Bilder und Kunst zugleich in Verantwortung.
Mit großer Aufmerksamkeit verfolge ich daneben auch die Arbeit von Positionen wie Eiko Grimberg, Maya Schweizer, Andrzej Steinbach, Jenny Schäfer, Jonas Höschl oder Arne Schmitt, mit denen ich größtenteils auch schon zusammenarbeiten konnte: zuletzt etwa mit Jenny Schäfer für die Gruppenausstellung „FOTOGRAFIE ZERSTÖREN“, an der ich mit einem Text beteiligt bin. Jenny hat die Ausstellung gemeinsam mit Maik Gräf für das Künstler*innenhaus FRISE in Hamburg konzipiert. Auf Initiative von Daniela Zeilinger ist die Ausstellung aktuell nun auch bei Camera Austria in Graz zu sehen. Das freut mich deshalb ganz besonders, weil ich selbst seit einigen Jahren regelmäßig für Camera Austria schreibe, und bei den Eröffnungstagen der FOTO WIEN 2023 gemeinsam mit Jonas Höschl für das CA-Panel zum Thema „The Politics of Images: Fotografie und Engagement“ eingeladen war.
Mit bestem Dank an…
Mira Anneli Naß
…arbeitet als Kunsthistorikerin und Fototheoretikerin in Frankfurt und Bremen