Seit dem Sommer 2021 leitest Du die Fotografie-Sammlung des Städel Museums. Die Sammeltätigkeit des Hauses geht bis ins 19. Jahrhundert zurück und hat in den vergangenen Jahren auch Zuwachs im Hinblick auf die Moderne und Gegenwart bekommen. Wie würdest Du Dein eigenes Interesse und die Perspektive des kommenden Ausstellungsprogramms beschreiben?
Mein persönliches Forschungsinteresse liegt in der deutschen Fotografie der 1920er und 1930er Jahre. Diesem Thema habe ich mich bereits in meiner Doktorarbeit über Paul Wolff gewidmet. 2021 bin ich auch mit der Sonderausstellung „Neu Sehen“ der Fotografie der 1920er und 1930er nachgegangen. Das war natürlich ein Glücksfall. Die Themen, mit denen ich mich in meiner kuratorischen Arbeit auseinandersetze, ergeben sich in der Regel aus dem Bestand des Hauses. Die Abteilungsgründung zur Sammlung Fotografie liegt nicht lange zurück, sodass hier noch Grundlagenforschung betrieben werden kann und es immer wieder zu Neuentdeckungen kommt. Auch ein Glücksfall. Die Sammlungsgeschichte reicht tatsächlich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück und hat sich dem stets wandelnden Medienverständnis entsprechend weiterentwickelt.
In der Ausstellung „Italien vor Augen“ setzte ich mich kürzlich mit der frühen Italienfotografie auseinander. Die Ausstellung versammelte bedeutende Aufnahmen der Jahre 1850 bis 1880 aus der eigenen Sammlung, die ursprünglich Kunst aus dem Süden einem breiten Publikum via Fotografien zugänglich machen sollte. Davor war mit „Andreas Mühe“ im letzten Jahr eine Position aus der Gegenwartskunst vertreten.
Kurzum: Ich möchte die gesamte Bandbreite der Fotografie, von den Anfängen bis heute, abdecken, um die Vielfalt des Mediums und ihre Rezeptionsgeschichte im Allgemeinen sowie die Bandbreite unserer Sammlung zu präsentieren.
Wie hat sich die fotografische Sammlung am Städel über die Jahre weiterentwickelt? Welche Sammlungsschwerpunkte gibt es bis heute?
Der „Kunstgenuss“ sollte bei den Besuchenden des Museums mit dem Erwerb von Fotografien um 1850 gesteigert werden. Die Abzüge dienten auch als Arbeits- und Anschauungsmaterial für die Studierenden der Kunstschule, die dem Museum seit seiner Gründung angegliedert war. Neben den Reproduktionen von Kunstwerken aus aller Welt fanden Stadtveduten, Genreszenen und Landschaftsansichten in den Museumsbestand. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Fotografie jedoch mehr dem Status des Archivarischen zugewiesen.
2008 gab es erstmals Bestrebungen, mit Ankäufen und Schenkungen eine umfassende Fotosammlung für das Museum aufzubauen. Im Rahmen dieser Weichenstellung sowohl für die Sammlung als auch für eine zeitgemäße Präsentation von Fotografie im Museum wurde der fotografische Altbestand für die Sammlung wiederhergestellt. Die Anzahl wuchs damit innerhalb einer relativ kurzen Zeit exponentiell an. Mittlerweile geben über 5.000 Abzüge einen Überblick über die Geschichte der Fotografie von ihren Anfängen bis in die Gegenwart. Ein deutlicher Schwerpunkt liegt im 19. Jahrhundert.
Wie würdest Du Deine tägliche Arbeit als Sammlungsleiterin Fotografie am Städel beschreiben? Welchen Fokus setzt Du bei Deiner wissenschaftlichen Arbeit?
Meine Arbeit ist sehr abwechslungsreich, auch über die Inhalte hinaus: Neben den Sonderausstellungen kümmere ich mich um die dauerhafte Präsentationen in den Sammlungsräumen. So habe ich allein schon thematisch maximale Vielfalt. Unser Bestand ist dynamisch gewachsen und soll es auch weiterhin. Vieles haben wir einer herausragenden Initiative der Bürgerschaft zu verdanken, in der sich auch der Gründungsgedanke des Museums durch den Stifter Johann Friedrich Städel bis heute widerspiegelt. Somit habe ich ebenfalls einen sehr bereichernden Austausch mit unseren Förderern, die mit viel Engagement und Herzblut unsere Arbeit unterstützen.
In den folgenden Jahren gilt es intensiv der Entstehungsgeschichte der Fotografien nachzugehen, die meist als Einzel(kunst)werke Zugang in die Sammlung gefunden haben. Über die eigentlichen (und oftmals auch wechselnden) Gebrauchskontexte ist größtenteils nur wenig bekannt. Deren Aufarbeitung ist mir ein großes Anliegen. Für unsere Digitale Sammlung ist deswegen ebenfalls geplant, dass die Materialität der Fotografie, beispielweise durch Rückseitenansichten, online sichtbar gemacht wird.
Gerne frage ich neugierig nach Neuentdeckungen, wobei es sich auch um persönliche Wiederentdeckungen handeln kann: Was hat Dich 2023 so richtig umgehauen?
Eine Ausstellung zu Vivian Maier in der Deutsche Börsen AG, The Cube in Frankfurt. Sehr poetisch und vielseitig.
Mit bestem Dank an…
Kristina Lemke
…Leiterin der Sammlung Fotografie am Städel, Frankfurt
BU: Porträt Kristina Lemke: Städel Museum – Katrin Binner