4 Fragen an…Bertram Kaschek

Du bist einer der wenigen Kuratoren, die über zwei Standbeine verfügen: die alte Kunst (Schwerpunkt: deutsche und niederländische Druck/Graphik) und die Fotografie. Wie ist es dazu gekommen?

Bereits während meines Studiums der Kunstgeschichte war ich am Berliner Kupferstichkabinett als studentische Hilfskraft tätig. Zudem konnte ich bei zwei Ausstellungen des Kupferstichkabinetts der Hamburger Kunsthalle – zu Pieter Bruegel d. Ä. und Hendrick Goltzius – mitarbeiten. Da ist meine Begeisterung für die alte Kunst auf Papier entstanden. Daran anschließend war ich an der TU Dresden unter anderem an einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt über „Das subversive Bild“ beteiligt, bei dem es auch um druckgraphische Bilder ging und das ebenfalls in Druckgraphik-Ausstellungen – zu den Beham-Brüdern und zu Pieter Bruegel – mündete. Über Bruegels „Monatsbilder“ (das sind allerdings Gemälde) habe ich schließlich auch meine Doktorarbeit geschrieben (erschienen 2012 als „Weltzeit und Endezeit“ im Wilhelm Fink Verlag).

Als ich nach dem Magister-Studium nach Dresden gezogen bin, bin ich auf das Werk des Fotografen Christian Borchert (1942–2000) gestoßen, das mich unmittelbar in seinen Bann gezogen hat. 2005 schrieb ich einen kurzen Text zu seinen „Bildern aus Dokumentarfilmen“ und recherchierte dafür in Borcherts Nachlass, der zu großen Teilen in der Deutschen Fotothek und der Handschriftenabteilung der Sächsischen Landesbibliothek, Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) aufbewahrt wird – ein damals noch kaum gehobener Schatz. Seitdem habe ich mich bemüht, zweigleisig zu fahren und immer auch die Fotografie im Blick zu behalten. 2015 habe ich mich dann bei der VolkswagenStiftung um ein Postdoc-Stipendium beworben, mit dem ich schließlich als Fellow am Dresdner Kupferstich-Kabinett von 2016 bis 2020 die erste große Retrospektive zu Borchert vorbereiten und eine umfassende Monographie schreiben konnte (erschienen bei Spector Books: „Christian Borchert. Tektonik der Erinnerung“).

Meine aktuelle Stelle an der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart – als Kurator für deutsche und niederländische Kunst auf Papier vor 1800 – habe ich im Oktober 2021 angetreten. Kurz nachdem ich dort anfing, wurde „The Gällery“ – unser „Raum für Fotografie“ (bestehend aus fünf Räumen) – ins Leben gerufen. Da war dann erstmal meine Foto-Expertise gefragt. Gemeinsam mit Alessandra Nappo, die damals Kuratorin für zeitgenössische Kunst an der Staatsgalerie war, habe ich die erste “Gällery”-Ausstellung kuratiert und in den folgenden Jahren auch weitere Foto-Projekte betreut. Momentan schwenke ich aber wieder um Richtung Alte Meister. In diesen Tagen eröffnet meine erste Ausstellung für unser Graphik-Kabinett: „Wir wöllen frei sein! Druckgraphik aus der Zeit des Bauernkriegs“.

In der Staatsgalerie Stuttgart nahm die Fotografie in den frühen neunziger Jahren, aber auch seit wenigen Jahren wieder einen großen Stellenwert in der Sammlung ein. Wie Du erwähntest, habt ihr vor knapp drei Jahren außerdem den Ausstellungsraum namens „The Gällery“ eröffnet. Wie würdest Du das aktuelle Konzept der Staatsgalerie zur Fotografie beschreiben?

Das Konzept der “Gällery” ruht auf drei Pfeilern. In erster Linie geht es darum, den wunderbaren Fotobestand der Staatsgalerie – vor allem aus der Graphischen Sammlung, aber auch aus dem Sohm-Archiv – zu aktivieren und in die Öffentlichkeit zu tragen. Aktuell ist die von Jens Ullner kuratierte Schau mit Fotos der 1920er- und 1930er-Jahre aus der Sammlung Dietmar Siegert zu sehen, die 2022 angekauft wurden. Der zweite Pfeiler ist eine Kooperation mit der Wüstenrot Stiftung: Letztes Jahr wurde ein großer Rückblick über die ersten 30 Jahre der Dokumentarfotografie Förderpreise gezeigt, und seit diesem Jahr ist “The Gällery” feste Station für die Wanderausstellungen der jeweils aktuellen Preisträger*innen. Der dritte Pfeiler ist unser Sommerspiel: Auch hier geht es erklärtermaßen um zeitgenössische Fotokunst – und um lokale Vernetzung. Wir kooperieren mit Partnern in der Stadt, etwa 2023 mit der Klasse Roggan von der Kunstakademie oder 2024 mit dem Fotosommer Stuttgart, einem Festival, das es seit über 20 Jahren gibt und dem wir in diesem Jahr eine große Bühne für eine jurierte Ausstellung zum Thema „Transformation“ bieten konnten.

Digitalisierung, KI, der Umgang mit exhibition copies – das sind aktuell heiß diskutierte Themen in der Museumsszene beim Umgang mit dem Medium: Wo siehst Du die drängendsten Diskussionsbereiche?

Natürlich bemühen wir uns, die Fotosammlung zu digitalisieren, inhaltlich zu erschließen und in unserer Sammlung Digital auf der Homepage der Staatsgalerie präsent zu machen. Rund ein Drittel von mehr als 2.100 Fotoarbeiten ist hier bereits abrufbar. Für eine breite Teilhabe der Öffentlichkeit an unserem Bestand ist das essentiell. Aus konservatorischer Sicht sind vor allem chromogene Abzüge (C-Prints) aus der 1970er- und 1980er Jahren immer wieder ein größeres Problem, da die Künstler*innen damals oft mit Materialien gearbeitet haben, die sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert haben – teilweise so sehr, dass das ästhetische Kalkül der betreffenden Arbeiten vollkommen durchkreuzt wird. Bisweilen gelingt es, mit Künstler*innen über Neuproduktionen in farbstabileren Techniken zu verhandeln. Von Cindy Shermans Studio konnte etwa im Rahmen der Ausstellung „Anti-Fashion“ (kuratiert von Alessandra Nappo) 2023 ein neuer Abzug eines völlig verfärbten Werks aus den frühen 1980er-Jahren angefertigt werden. Aufgrund des hohen logistischen und finanziellen Aufwands kann dies leider nicht allzu oft geschehen – auch wenn die Zeit eigentlich drängt, solange die betreffende Generation für einen konstruktiven Austausch noch zur Verfügung steht.

Hast Du in der jüngeren Vergangenheit eine Entdeckung gemacht, die Dich umgehauen hat – und wenn ja: welche?

Erst als ich an die Staatsgalerie kam, habe ich dort die Werke des seit nunmehr 50 Jahren in Stuttgart arbeitenden Künstlers Platino kennengelernt, die mich tatsächlich umgehauen haben – nicht zuletzt aufgrund ihrer anhaltenden Farbkraft. Platino fotografiert seit den frühen 1980er Jahren (zunächst rote) Räume, die er selbst ausgemalt hat – und gestaltet mit den daraus entstandenen, weitgehend abstrakten Aufnahmen dann wiederum neue Räume. Für seine zumeist großformatigen, hinter Acrylglas aufgezogenen Bilder hat er vor allem Cibachrome/Ilfochrome (markenneutral: Silberfarbbleichabzüge) verwendet. Es ist bemerkenswert, wie sehr die Werke ihre farbliche Brillanz und geradezu malerische Qualität bewahrt haben. Hier ist es genau umgekehrt wie bei den oben erwähnten C-Prints: Platino hat vor Kurzem testweise eine Neuproduktion eines alten Werks in Inkjet-Technik versucht und diese mit dem Abzug aus unserer Sammlung verglichen. Es war frappierend, wie weit das neugedruckte Bild hinter dem 35 Jahre alten Abzug zurückblieb. Da verbietet sich eine Neuproduktion aus historischer wie aus ästhetischer Warte.

Aktuell hat mich die Arbeit „Void“ der niederländischen Fotografin Satijn Panyigay sehr beeindruckt. Auch sie fotografiert (leere) Räume, die dann im Bild mitunter zu monochromen Abstraktionen werden. Überzeugt hat mich hier nicht zuletzt die jeweils ganz eigenständige Umsetzung der Arbeit in Bildern für die Ausstellungswand und im Fotobuch (erschienen 2023 bei Hartmann Books). Während die gerahmten Werke im großen Format bei genauer Betrachtung mit präzisen Details aufwarten, die die vorgebliche Ordnung der Kompositionen irritieren, eröffnet das Buch mit seinen durchweg ausfaltbaren Seiten einen ganz eigenen, optisch und haptisch zu erkundenden Raum. Die Bilder auf und in dem ungestrichenen Papier werden hier eins mit dem Buchkörper, den man nicht geschwind durchblättern, sondern in dessen Inneres man nur langsam, schauend und tastend vordringen kann – eine intensive entschleunigende Erfahrung.

Mit bestem Dank an…

Bertram Kaschek

…ist Kurator für Deutsche und Niederländische Kunst auf Papier vor 1800 an der Staatsgalerie Stuttgart.