Nachdem Du lange als freie Kuratorin und Mitarbeiterin der Photographischen Sammlung der SK Stiftung Köln tätig warst, leitest Du seit Ende 2016 das Museum für Photographie in Braunschweig: Wie würdest Du als gebürtige Rheinländerin heute die unterschiedlichen Foto-Szenen von West und Nord, Ost und Süd in Deutschland beschreiben – vor allem im Hinblick auf die Ausbildungssituationen und auch die Ausstellungsmöglichkeiten?
Die Fotografie gehört mit ihren unterschiedlichen Bildsprachen und fotografischen wie konzeptuellen Vorgehensweisen, ihren Anwendungsbereichen sowie einer Auseinandersetzung über das, was das Fotografische heute u.a. auch im Hinblick auf digitale Möglichkeiten und kulturelle, wissenschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge bedeuten kann, zu einem der vielschichtig eingesetzten künstlerisch-konzeptuellen und gesellschaftlich relevanten Medien.
Mit Blick auf „Foto-Szenen“, Ausstellungsorte und Ausbildungsstätten, die von West über Nord, Ost und Süd in Deutschland innerhalb ihrer Geschichte auf unterschiedliche Schwerpunkte zurückblicken können, haben sich Zuschreibungen über „Stile“ und „Schulen“ wie sie noch vor einigen Jahren üblich und in gewisser Weise möglich waren, meiner Ansicht nach mehr und mehr aufgelöst. In fließender Auseinandersetzung über die Fotografie und das Fotografische, über bildnerische Möglichkeiten, Themen, Konzepte und Ansätze finden von Köln, Düsseldorf, Essen und Bielefeld über Hannover, Braunschweig, Hamburg, Berlin bis nach Leipzig – um einige Orte, die mit Ausbildungsstätten der Fotografie verbunden sind, zu benennen – stets auch Neukontextualisierungen und wechselseitige Blickrichtungen auf Möglichkeiten, Zusammenhänge, Geschichte und Zukunft des Mediums statt. Ausstellungen finden in freien Räumen, in Kunstvereinen, Museen und Galerien, im öffentlichen bis hin zum digitalen Raum sowie vermehrt auch im Kontext von Festivals statt. Insgesamt also eine gut besiedelte und interessante Landkarte. Bei mir als gebürtiger Rheinländerin, die sich auch hier schon mit den parallelen Möglichkeiten beschäftigt hat, weckt dies in unterschiedlicher Weise die Neugierde.
Das viel diskutierte Bundesinstitut für Fotografie soll ja – in dieser Hinsicht besteht zweifellos ein Konsens zwischen den divergierenden Konzeptionen – neben Forschungsaufgaben zur Materialität und zur Theorie und Geschichte des Mediums auch fotografische Nachlässe beherbergen. Wie schätzt Du die Notwendigkeit einer solchen Institution ein und wo würdest Du seine Hauptaufgaben sehen?
Ich schätze die Notwendigkeit hoch ein, mit kunst- und fotohistorischem, archivarischem und restauratorischem Fachwissen, klimatechnischer Ausstattung und Konzepten zur Vermittlung und Vergegenwärtigung von noch zu definierenden Beständen ein Institut zu gründen, um Nachlässe, Vorlässe und Archive zu sichern, diese mit Projekten zu vermitteln sowie einen Ort für Forschung zugänglich zu machen.
Damit sind schon einige Aufgaben genannt. Im Hinblick auf die Auswahl der Nach- und Vorlässe, für die es sicherlich viele Bewerbungen geben wird, muss man Kriterien entwickeln, die möglichst auch die Veränderlichkeit von Maßstäben der Bewertung einbeziehen. Archive werden in einer Gegenwart gegründet und angelegt und unterliegen aus dieser heraus Ordnungsprinzipien. Der Blick auf Sammlungen und archivarische Praxis unterliegt aber oft dem Wandel der Betrachtung aus historischer Erfahrung und schließt dann Neubewertungen ein. Für ein zu gründendes Fotoinstitut stellt auch dies eine Verantwortung dar.
Unser Betrieb scheint ja immer nach „Neuentdeckungen“ zu gieren. Im Blick auf Dein Programm fallen aber immer auch ältere Positionen auf, die überraschen (aktuell: Irmel Kamp, zuvor schon Hartmut Neumann, Jürgen Becker). Wie würdest Du Deine Ausstellungs-Programmatik beschreiben: Mischungen zwischen jung und alt, Einzel- und Gruppenpositionen?
Die Programmatik des Museums wendet sich allgemein den Möglichkeiten der künstlerischen Fotografie, ihren unterschiedlichen Bildsprachen und Konzepten, gesellschaftlichen Fragestelllungen bis hin zu installativen Kontextualisierungen zu und stellt in diesem Zusammenhang Positionen sowohl in Einzel- wie in thematischen Gruppenausstellungen vor. Hierzu zählen auch Projekte, die den Sammlungsbestand (meist in Zusammenhängen zur zeitgenössischen Fotografie) vorstellen.
Die Ausstellungen entstehen neben dem Fokus auf Inhalte und fotografische Konzepte immer auch entlang neutraler Kriterien und im Hinblick auf vergleichende Betrachtungsmöglichkeit. Ihnen geht meist die längere Beschäftigung mit dem Werk von Künstlerinnen und Künstlern voran.
Das Alter spielt dabei allgemein keine Rolle, aber ein Werk entsteht eben manchmal erst über einen längeren Zeitraum und kann immer wieder auch Überraschungen und unbekanntere Facetten bergen. Das finde ich ebenso spannend, wie unsere Ausstellungen auch aktuelle Positionen präsentieren, hier auch junge Künstler*innen von Kunsthochschulen und seit vielen Jahren die Ausstellungen zu den Wüstenrot Dokumentarfotografie Förderpreisen zeigen.
Jürgen Becker, der gerade 90 Jahre alt wurde, ist eher für seine schriftstellerische Arbeit bekannt. Wir zeigten 2017 die Foto-Serie „New York 1972“, die, so sagt es der Titel, im Anschluss an eine Lesereise des wichtigen Schriftstellers in New York entstand und von seinem Sohn, dem Fotokünstler Boris Becker wiederentdeckt wurde. Er publizierte einige Jahre vor unserer Ausstellung eine Publikation im Sprungturm Verlag, die ich kannte. Unsere Ausstellung präsentierte erstmals ein umfassendes Bild-Konvolut. Aktuell sind einige der Arbeiten aus der Serie, die sich in den Kanon der amerikanischen Street-Fotografie einreihen lässt, in Köln in der Galerie formformsuche zu sehen.
Hartmut Neumann, dessen Professur an der HBK Braunschweig in diesem Sommer endet, ist eher für seine Malerei und Zeichnung bekannt. Die Fotografie verbindet unterschiedliche Aspekte im Werk des Künstlers und wurde kürzlich in einer besonderen Installation und im Dialog mit Arbeiten von Michael Bauer, Tim Berresheim und Sam Evans (ehemalige und eine aktuelle Studentin) im Museum vorgestellt.
Die fotografische Arbeit von Irmel Kamp, die wir aktuell in einer Werkschau vorstellen, die in Kooperation mit dem Leopold-Hoesch-Museum Düren entstand, und von einem Katalog begleitet wird, ist in den vergangenen vier Jahrzehnten entstanden. Mit ihren typologischen, auf Themen der Architektur konzentrierten schwarzweißen Werkserien gehört Irmel Kamp seit einigen Jahren zu den geschätzten und dabei neu zu entdeckenden künstlerischen Positionen.
So berücksichtig die Museumsarbeit andere Aspekte als sie mitunter im Kunstmarkt auszumachen ist, obschon auch hier oft die Kontinuität der Betreuung von Künstler*innen eine wichtige Rolle spielt. Wesentlich für die Konzeption unserer Ausstellungen ist es, das Medium und seine Anwendung, Themen, Bildsprachen und gesellschaftliche wie auch historische Zusammenhänge vorzustellen. Überraschungen sind dabei auch altersunabhängig möglich.
Dieser Sommer liefert uns ja wieder eine Häufung von Kunst-events: Venedig, Basel, Kassel, Arles. Wo bist Du bereits gewesen, wohin fährst Du noch und hast Du schon etwas Besonderes entdeckt?
Die Vorbereitungen, Eröffnung und die Durchführung wichtiger Programmpunkte unserer Ausstellung “Irmel Kamp. Architekturbilder” (noch bis zum 18.9.2022 im Museum für Photographie Braunschweig zu sehen) fiel mit den Eröffnungen in Basel, Kassel und Arles zusammen. Letztere stehen noch auf meinem Besuchsprogramm, ebenso wie Venedig. Ausstellungen innerhalb der aktuellen Fotofestivals in Düsseldorf und Hamburg habe ich mir angesehen und bin auch neugierig auf verschiedene Museumsausstellungen, die gerade eröffnet wurden oder noch kommen. So werde ich mir im August den neuen Museumskomplex Plateforme 10 in Lausanne anschauen, in den nun das Musée de L’Elysée als Fotografiemuseum eingegliedert ist. Wir haben für die Eröffnungsausstellung zum Thema Zug aus unserem Museumsbestand Arbeiten von Käthe Buchler (1876 – 1930) aus der Werkgruppe „Frauen in Männerberufen“ ausgeliehen.
Ich bin neugierig auf das sicherlich beeindruckende Museums-Ensemble, das ich vorab – wie auch viele Beiträge zu den angesprochenen Großereignissen in Zeitschriften oder den sozialen Medien, bzw. Filmbeiträgen – gesehen habe. In Venedig bin ich sehr neugierig auf den belgischen Pavillon mit Arbeiten von Francis Alys und Vieles mehr in näherer und weiterer Umgebung.
Besten Dank an…
Barbara Hofmann-Johnson
…ist Direktorin des Museum für Photographie Braunschweig