Über Fotografien und warum man sie überhaupt macht: Zwei wichtige Neuerscheinungen

Überblickswerke sind etwas sehr schönes und praktisches – sofern sie denn leisten, was sie versprechen. Nicht nur das modulare Studium sehnt sich in seiner Verschulung nach kanonisierenden Publikationen und auch die nicht- oder gar post-graduierte Leserschaft vermisst in der längst nicht mehr neuen Unübersichtlichkeit Leitfäden im (medialen) Dschungel der Kunst. Doch keine Angst: die Erlösung naht! Im Folgenden sind zwei neue Bände zur modernen und jüngsten Fotografie anzuzeigen, die (liebe Bibliothekar*innen aufgepaßt!) lohnend zur Anschaffung sind.

Die Titel beider Sammelbände geben sich denn auch ganz grundsätzlich, um nicht zu sagen essentialistisch. Das aber will weder das 264 Seiten umfassende Buch „On Photographs“ von David Campany noch der unwesentlich größere, „Why Photography?“ titulierte Ausstellungskatalog des Henie Onstad Kunstsenters in Oslo sein. Worum geht es dann in diesen beiden vermeintlichen Grundlagenwerken? 

In seiner knappen Einleitung gibt David Campany unumwunden zu, dass die Motivation für seinen Titel einen speziellen Hintergrund hat. Er ist motiviert durch ein Gespräch, das der Autor einst mit Susan Sontag zu ihrem legendären, 1977 noch nicht überschätzten Buch „On Photography“ führte und das in die Frage nach Einzelbildern mündete. Sontag antwortete dem heutigen Programmdirektor des ICP, dass sie dieses Thema gar nicht interessiere, eher die Fotografie als ein gesellschaftliches Phänomen, dass aber doch er, der damalige Student David Campany, einmal ein solches Buch schreiben solle. – Koketterie hört sich anders an.

Immerhin: Lange hat’s gedauert, aber wie immer bei diesem ebenso eloquenten, kenntnisreichen wie auch gut lesbaren Autor hat es sich gelohnt. Den etwa 120 Fotografien, die jeweils auf der rechten Seite abgebildet sind, hat er auf der gegenüberliegenden Seite einen gut und rasch konsumierbaren Text hinzugefügt. Diese Beschreibung klingt nach einem Coffee-table-book-Format, was es aber weder aufgrund der handlichen Größe noch aufgrund seiner inhaltlichen Substanz ist. Um welche Bilder aber geht es? Und an eben dieser Stelle wird es interessant, denn Campany führt uns keine Erzählung der legendären Meisterwerke vor, wie wir es von einem bei Studierenden so beliebten, nicht von ungefähr soeben in zweiter Auflage erschienenem Reclam-Bändchen „Meisterwerke der Fotografie“ von Bernd Stiegler und Felix Thürlemann her kennen. Campanys Bildauswahl ist historisch weitgehend fokussiert auf das 20. und 21. Jahrhundert, verblüfft dabei aber aufgrund in seiner Bild-Auswahl als auch in seiner Reihenfolge, die keiner erkennbaren Systematik folgt. Doch die meisten, fast alle Fotografien bezaubern und es erscheint auch schlüssig, wenn auf Lucas Blalocks „Emile“ Bloomberg & Chanarins „The Press Conference“ (S. 188-191) oder auf Maurice Jarnoux’ berühmtes „Andre Malraux at Home“ auf einmal Anastasia Samoyllovas „Six Real Matterhorns“ (S. 172-175) folgt. Wie also gesagt: keine Rekapitulation bereits ikonischer Fotos, sondern eine alternative, erfrischende Zusammenstellung von bislang übersehenen oder zukünftigen Meisterwerken der neueren Fotografie.  

Nicht minder erfrischend die Präsentation in dem norwegischen Ausstellungskatalog, der nach dem Grund des künstlerischen Gebrauchs der Fotografie fragt. Dabei hat er es aber vielleicht auch einfacher, da er in seiner Konzentration auf die Fotografie im digitalen Zeitalter, sprich: des 21. Jahrhunderts, selbstredend mehr Überraschungen parat hat. Jede Person unter uns würde aus der allzu kurzen historischen Distanz heraus wohl eine unterschiedliche Liste wichtiger zeitgenössischer Positionen zusammenstellen. Natürlich muß man über die Auswahl von Wolfgang Tillmans, Annette Kelm, Roe Ethridge, Viviane Sassen, Timur Si-Qin oder Viktoria Binschtok nicht sonderlich verblüfft sein. Andere Namen aber, wie die etwa von Lucile Boiron, Letha Wilson, Johan Rosenmunthe oder Nico Krijno, sind sicher noch nicht überall auf dem Radar. Das (vermeintlich) leidige Problem von Gruppenausstellungen zur Gegenwartskunst…? 

Nicht wirklich. Dass jede (nicht nur: Gruppen-)Ausstellung auch eine kuratorische Behauptung darstellt, wird in den einleitenden Essays von Susanne Østby Sæther und Brian Sholis schließlich sehr wohl reflektiert. Während der aus Toronto stammende Sholis, auf dessen eigene Homepage hier am Rande ebenso hingewiesen sei (www.sholis.com), die angelsächsische Theorie-Diskussion der Fotografie des vergangenen Jahrzehnts konzise zusammenfasst (S. 32-41), bemüht sich seine Osloer Kollegin in ihrem ausführlichen Text (S. 8-31) um die Nennung von einigen Kriterien, welche die Auswahl der letztlich 30 Ansätze begründen mögen. Der experimentelle Zugriff auf das Medium, das Phänomen der Abstraktion (verstärkt auch durch die digitale Praxis) sowie eine die Zweidimensionalität des Bildes transformierende Materialität des Bildes werden hier genannt. Obgleich damit selbstredend einige künstlerische Positionen ausgeschlossen sind, deren Verlust von manch (wertkonservativen) Vertretern des Faches bedauert werden dürfte, hat Østby Sæther damit zweifellos zentrale Charakteristika der zeitgenössischen künstlerischen Fotografie benannt.  

Der Titel des Buches zieht sich durch selbiges wie ein Leitfaden, insofern die berechtigte Frage nach der Fotografie und ihrem Sinn am Ende jener jeweils dichten Künstler*innen-Interviews steht, die denn umfangreichsten Part des Katalogs ausmachen. Die durch das Virus und den entfernten Ort nur schwer zugängliche Ausstellung werden die meisten von uns wohl verpasst haben, diese Publikation aber sollte man nicht versäumen. – Die Frage „Warum Bücher?“ stellt sich aus gutem Grund so gut wie nie.

David Campany, On Photographs, London: Thames & Hudson 2020

Bjarne Bare / Behzad Farazollahi / Christian Tunge (Hrsg.), Why Photography, Milano: Skira 2020  

 

Stefan Gronert

…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover

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