Ein Wechsel zwischen eindringlichen Porträts, Momentaufnahmen und Stillleben aus dem Alltag: Fotografische Sammelalben aus den 1920er und 1930er Jahren beinhalten oftmals eine vielfältige Sammlung von Bildern, deren Entstehungskontext nicht unterschiedlicher sein könnte. Dabei stellt sich unweigerlich die Frage: Handelt es sich um ein privates Sammelalbum, oder um ein künstlerisches Gesamtkonzept?
In der Sammlung des Sprengel Museums Hannover finden sich mehrere Beispiele von Fotoalben, die unterschiedliche Gestaltungsprinzipien in sich vereinen. Hierzu gehört das Album “Fotos Kurt Schwitters I”, welches Fotografien des Künstlers aus dem Zeitraum 1930/1935 beinhaltet. Die Aufnahmen wechseln zwischen Eindrücken aus seiner Heimat Hannover und Reisefotografien, die Schwitters während seiner Aufenthalte in der Schweiz und in Norwegen um 1930 schuf. Somit umfasst das Album nicht nur eine größere Zeitspanne, sondern spiegelt auch sehr verschiedene Erlebnisse des Künstlers aus dieser Zeit wider.
Beim näheren Betrachten wird die Vielseitigkeit des Materials und der daraus entstehenden Narrative deutlich, die die Grenze zwischen privatem und öffentlichen, künstlerischen Raum verschwimmen lassen. Architekturaufnahmen mit spannenden Perspektiven wechseln sich ab mit Bildern des hauseigenen Balkons und einer Ansichtskarte der nächtlichen Stadtszenerie Hannovers. Auf zwei Seiten vereint Schwitters private Einblicke seiner Heimat mit modernen fotografischen Experimenten, die an die Bewegung des Neuen Sehens erinnern. Ein ähnliches Wechselspiel zeigt sich auch in den darauffolgenden Reiseeindrücken: Darstellungen seiner Frau Helma und seines Sohnes Ernst auf einer Fähre, die aus dem Moment herausgegriffen sind, stehen neben atmosphärischen Fjordlandschaften und Detailaufnahmen von Felsformationen und Gletschern, die wie Stillleben aus der Natur anmuten. Die Ambivalenz, die sich zwischen den verschiedenen Arbeiten innerhalb des Albums zeigt, verdeutlicht die feinen, nahezu verschwimmenden Grenzen zwischen privater und künstlerischer Perspektive auf die Umgebung. Auch die Komposition der einzelnen Seiten lässt auf einen offenen Umgang mit den Sujets schließen: Schwitters präsentiert die Silbergelatineabzüge, meist in dem Format 6 x 6 cm, in mehreren, übereinanderliegenden Reihen, und kreiert damit eine Art Bildergeschichte. Das Album dient nicht nur den Erinnerungen aus den frühen 1930er Jahren und der damit einhergehenden Vermittlung familiärer Geschichte, sondern bildet zugleich ein künstlerisches Narrativ, welches spannende fotografische Perspektiven eröffnet.
Bereits im 19. Jahrhundert entwickelt sich das Fotoalbum als künstlerisches Format zu einer wichtigen kulturellen Praxis. Die unterschiedlichen Vorgänge des Arrangierens, Montierens und Zusammenklebens bieten Künstler*innen die Möglichkeit, den privaten und öffentlichen Raum miteinander zu verschränken. Im 20. Jahrhundert erreicht es seinen Höhepunkt. Nach der Jahrhundertwende löst sich die Fotografie von dem strengen Rahmen des Studios und entwickelt sich zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Praxis. Die breiteren Nutzungsmöglichkeiten des modernen Mediums haben zur Folge, dass auch das Fotoalbum zu einem alltäglichen Objekt avanciert, welches von einer großen Öffentlichkeit unterschiedlich genutzt wird. Mit seinen diversen Funktionen des Sammelns, Aufbewahrens und Präsentierens bietet es einer großen Bandbreite von Fotograf*innen mit unterschiedlichem Background eine künstlerische Gestaltungsform. Neben der steigenden Zahl an Kameramodellen, die eine freiere Anwendung und damit einen größeren experimentellen Spielraum in der Fotografie ermöglichen, bietet das Album eine kreative Ebene des Ausprobierens und Entdeckens neuer künstlerischer Ansätze. Gegensätzlich zu den Formaten, die noch im 19. Jahrhundert existierten, eröffnen die neuen Heftarten Möglichkeiten für neue Strukturen und kreative Spielräume. Sie zeichnen sich durch nicht-lineare, immer wieder erneuerbare Ordnungsformen aus und bieten damit eine mediale Erzählebene, die dynamisch, hybride und stets wandelbar ist.
Wie in dem eingangs betrachteten Fotoalbum von Kurt Schwitters vermischen sich in vielen Werkkonzepten private und künstlerische Perspektiven. Was sie eint, ist die Funktion des Albums, Narrative darzustellen und damit auch gesellschaftlich relevante Erzählungen wiederzugeben. Die Form der Darstellung sowie das Verhältnis von privaten und öffentlichen Materialien ist dabei weniger ausschlaggebend als eine Lesbarkeit in der Gestaltung und ein zusammenhängender roter Faden, der die diversen Inhalte eines Albums miteinander verknüpft. Durch diese intermediale Verbindung erhält das Fotoalbum den Charakter eines zusammenhängenden Werkes.
Pauline Behrmann
….ist wissenschaftliche Mitarbeiterin / Doktorandin Kurt Schwitters Archiv
BU: Kurt Schwitters: Fotos Kurt Schwitters I, 1930/1935, Foto: Herling/Herling/Werner, Sprengel Museum Hannover