Wer betrachtet, und wer wird beobachtet? Eine Frage, die mit der abgebildeten Fotografie unweigerlich aufgeworfen wird. Im Zentrum der Darstellung, die ca. 1932 entstanden und deren Urheber*innenschaft bis heute ungeklärt ist, steht die Fotografin und Filmemacherin Ella Bergmann-Michel (1895–1971).
Inmitten eines sonnenbeschienenen Platzes befindet sich die Künstlerin im unmittelbaren kreativen Prozess: Mit einer Kinamo-Kamera fokussiert sie ein Geschehen, welches sich außerhalb des Bildraumes abspielt. Ihre gesamte Körpersprache ist auf die künstlerische Tätigkeit gelenkt, der Fokus liegt ganz auf dem zu filmenden Objekt. Obgleich sie in der Aufnahme selbst den Mittelpunkt der Darstellung einnimmt, tritt sie zeitgleich aus dieser Rolle heraus – sie übernimmt selbst die aktive Rolle der Beobachterin und zeigt sich uns als agierende Künstlerin.
Die Frau „hinter der Kamera“ ist ein Sujet, welches sich bereits in den Anfängen der Fotografie wiederfindet und in den 1920er Jahren – eine Zeit, die durch die Vorstellung der „Neuen Frau“ geprägt ist – eine starke Aktualität erfährt. Fotografinnen stellen sich mit ihrer Kamera selbst in Szene, häufig mittels eines Selbstauslösers, oder, wie im Fall von Ella Bergmann-Michel, durch Künstlerkolleg*innen. In den Darstellungen zeigen sich die Künstlerinnen häufig direkt im Moment ihrer Tätigkeit – mit der Kamera vor ihrem Gesicht, der Hand am Objektiv und einem Finger auf dem Auslöser. Der gewählte Augenblick hat dabei eine starke Aussagekraft: Durch das Festhalten des aktiven künstlerischen Schaffens zeigen sich die Fotografinnen als arbeitende Frauen, denen es gelungen ist, Selbstständigkeit und dadurch Selbstbestimmung zu erlangen. Die Kamera fungiert dabei nicht nur als technisches Mittel, sondern auch als ein Symbol der Selbstbehauptung in einer männlich bestimmten Domäne. Über die Tradition des (Selbst-)Porträts hinausgehend, in dem seit dem 16. Jahrhundert vorrangig die Idealisierung und Präsentation der dargestellten Person im Mittelpunkt steht, nutzen Fotografinnen das Sujet als Mittel der eigenen Identitätssuche und Reflexionsebene ihrer gesellschaftlichen Rolle.
Entgegen der tradierten Zuweisung innerhalb der Kunstgeschichte, die den Mann vor allem als schöpfendes Genie und die Frau als Muse verortet, hat die Frau selbst die „Macht über den Auslöser“ und damit eine vollkommene Kontrolle darüber, wie sie sich selbst darstellen und nach außen zeigen möchte. Das Fotografieren und Filmen wird in der (Selbst-)Darstellung zu einem körperlichen Akt und damit zu einer aktiven, emanzipatorischen Handlung.
Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Gründung der Weimarer Republik werden bis dahin manifestierte, soziale Hierarchien aufgebrochen, neue Tätigkeitsräume eröffnet und damit vor allem Frauen die Möglichkeit gegeben, weite Bereiche des fotografischen Mediums zu erproben und weiterzuführen. Gegensätzlich zu den klassischen Gattungen der Kunstgeschichte, die jahrhundertelang durch einen männlich bestimmten Kanon geprägt wurden, bietet die Fotografie als modernes Medium neue Entwicklungsräume und damit das Potential für Fotografinnen, Selbstständigkeit zu erlangen und eine höhere Sichtbarkeit zu erfahren.
Abseits der klassischen Kunstakademien, zu denen Frauen im frühen 20. Jahrhundert noch keinen Zugang haben, können sie sich in Lehrinstituten wie dem Lette-Verein in Berlin Technik und Wissen der Fotografie aneignen. Eine wichtige Rolle spielt auch die illustrierte Presse, die es Fotograf*innen ermöglicht, mit ihrer künstlerischen Tätigkeit nicht nur ein sicheres Einkommen zu erlangen, sondern ihre Arbeiten zugleich einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es ist eine „neue Möglichkeit des Teilnehmens“, wie es Ute Eskildsen in dem Ausstellungskatalog “Fotografieren hiess teilnehmen: Fotografinnen der Weimarer Republik” so treffend formuliert. Bisher männlich besetzte Bereiche, darunter vor allem der öffentliche und politische Raum, werden mittels der Fotografie von Frauen neu erkundet und dadurch angefochten. Diese Bewegung geht einher mit dem Aufkommen der Straßenfotografie, die – anders als das ortsgebundene, tradierte Arbeiten im Studio – im Urbanen stattfindet und Fotograf*innen dadurch mehr Freiräume ermöglicht. Die Selbstdarstellung mit Kamera ist als wichtiger Bestandteil dieser emanzipatorischen Bewegung zu verstehen. „For a woman to use a camera is a kind of theft of this power, an assertion of the right to value her own capacities of observation and judgement, rather than simply to sustain someone else’s exercise of these functions.“ (James Lingwood, Staging the Self. Self-Portrait Photography 1840–1980s, (Ausst.-Kat.) National Portrait Gallery, London 1986, S. 51)
Auch Ella Bergmann-Michel zeigt sich in der Aufnahme als eine aktiv wirkende, im freien Raum agierende Fotografin und Filmemacherin. Sie tritt aus der klassischen Funktion der Frau als Modell heraus und zeigt sich selbst als Kunstschaffende. Die Wechselwirkung zwischen dem Akt des eigenen Beobachtens und dem des Betrachtet-Werdens versetzt sie in eine unabhängig agierende Rolle und eröffnet zugleich eine Plattform der Reflektion über die Wahrnehmung ihrer Person als Künstlerin.
Pauline Behrmann
…ist Doktorandin am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg und tätig im Kurt Schwitters Archiv, Hannover
BU: Unbekannte*r Fotograf*in: Ella Bergmann-Michel mit 35mm Kinamo-Kamera, ca. 1932, Silbergelatineabzug, Sprengel Museum Hannover, Archiv Robert Michel und Ella Bergmann-Michel, Schenkung aus dem Nachlass der Künstler 1988, Foto: Stefan Behrens, Sprengel Museum Hannover