Politik des fotografischen Wissens: Zwei aktuelle Baustellen

Soeben scheint es der letzte Schrei von einer „post-pandemischen Zeit“ zu raunen – obgleich ein Ende der viralen Lebensstörung mehr eine mittelfristige Vision denn eine nahe Realität sein dürfte. Auch wer sich für Bilder interessiert, wird den Verlust der Originale seit letztem Jahr schmerzlich erfahren haben. Das gilt selbst für Fotografien. Im Stile eines Zweckoptimismus blickt man nun gestresst positiv nach vorn, frohlockt über die langsame Öffnung der Institutionen und sehnt sich zudem nach sozialen Kontakten, die nicht digital beschränkt sind. In der Foto-Szene hat sich während dieser leidvollen, keineswegs tatenlosen Zeit bereits manch Schwerwiegendes geändert – oder eben auch nicht…

Lagebeschreibungen sind immer schwierig, da sie von zu vielen subjektiven Wahrnehmungsmustern durchwirkt sind. Doch immerhin zwei Baustellen kann man leicht identifizieren. Eine von ihnen ist bekannt, die andere hat eine bereits lang währende Problematik auf beinahe unbemerkte Weise verschärft. Die Themenfelder, die im Folgenden betrachtet werden, betreffen das Feld der Fotografie in seiner Breite, da es um wissenschaftliche Ausbildung sowie Forschung, Archivierung und Konservierung geht. 

Beginnen wir mit Letzterem: Die Bundeskanzlerin hat am 24. Juni ihre letzte Rede in dieser Funktion im Bundestag gehalten. Eine Ära geht zu Ende. Der Bundestag entfleucht in einen mehr als dreimonatigen Sommerschlaf. Die Staatsministerin für Kultur und Medien geht als Spitzenkandidatin für die Berliner CDU in den Wahlkampf. Monika Grütters wird also wieder im nächsten Bundestag sitzen – in welcher Funktion aber?

Das steht in den Sternen, darf aber die Foto-Gemeinde deshalb etwas beunruhigen, da schließlich sie es war, welche (im Anschluß an frühere Bemühungen von Künstler*innen und Kurator*innen) die politische Initiative zu einem Bundesinstitut für Fotografie ergriffen hat. Der Plan hierfür liegt aktuell auf Eis und kann nicht vor der Neukonstituierung einer Bundesregierung wieder angegangen werden. Wird man dann einer neuen Regierung dieses durchaus kostenintensive Projekt, von dem bislang nur die erwarteten Bau-, nicht aber die Betriebskosten bekannt sind, überhaupt noch schmackhaft machen können? Oder wird es weiterhin eine zersetzende Prestige-Diskussion zwischen kommunalen Politikern allein um den Standort des avisierten Institutes gehen, die nach dem bevorstehenden Wechsel des nordrhein-westfälischen Landesfürsten nach Berlin entweder erneut aufbrennen oder gar verglühen wird? Zuletzt hatten sich vier Berliner Fotograf*innen noch einmal ins Zeug gelegt, um die Debatte zu beleben, doch vergeblich.

Sicherlich hat die bisherige profilneurotisch motivierte Diskussion in NRW zur aktuellen Ausbremsung der Installation eines Bundesinstitutes erheblich beigetragen. Dass man die Aufgabe und Inhalte eines solchen Institutes, so gut sie anfänglich bereits reflektiert sein mögen, zumindest im Detail noch weiter diskutieren müsste, wird niemand bestreiten. Das wird ebenso nötig wie zeitraubend sein, selbst im Bewusstsein darüber, dass man die Wünsche einer derart heterogenen Szene wie die der Fotografie ohnehin nicht befriedigen werden kann. Selbst für den erhofften Fall, dass die Institution doch kommt, ist die lautstarke Kritik am Bundesinstitut vorprogrammiert. Mit Rücksicht auf die NRW-Landtagswahlen im Mai 2022 ergibt sich die Frage: wer verbrennt sich als Politiker*in zuvor noch gern die Finger? 

Eine weitere Verzögerung deutet sich an und nährt den Zweifel, ob das avisierte Gebäude vor Ende des soeben begonnenen Jahrzehnts überhaupt in Betrieb gehen kann. Währenddessen geht der muntere Verfall von kunst- und kulturgeschichtlich bedeutsamen Bildern ebenso weiter wie eine forcierte Forschung zu deren Erhalt sowie zur Geschichte und Theorie der Bildform stagniert.

An genau dieser Stelle können wir zu einem zweiten kulturpolitischen Problemfall kommen, der sich ebenfalls anschickt zu einer Dauerbaustelle zu geraten. Dabei tragen allerdings nicht der Bund, sondern die Wissenschafts- bzw. Kultusministerien der Länder die Verantwortung. Es geht um ein kaum thematisiertes, tatsächlich aber schwer wiegendes Defizit wissenschaftlicher Ausbildung an deutschen Universitäten und Hochschulen, das sich während der Pandemie forciert hat, freilich ohne durch sie motiviert zu sein. 

Nahezu unbemerkt ist nämlich unlängst Herta Wolf in den Ruhestand gegangen. Sie war bekanntlich von 2010 bis 2020 Professorin für Theorie und Geschichte der Fotografie an der Universität Köln, nachdem sie in einem wissenschaftspolitischen Husarenritt ihre Aufgabe von der Folkwang Universität Essen (einst Universität GH Duisburg-Essen), wo sie seit 1994 tätig war, an den Rhein mit hinüber gezogen hat. In Essen, wo die Stelle verwaltungsmäßig nach wie vor angesiedelt war, lag sie praktisch bis 2015 brach, verwaltungstechnisch genauer: sie wurde dort ganz neu geschaffen und wird seitdem von Steffen Siegel ausgefüllt. Seitdem galt für fünf Jahre: Zwei Professuren für Theorie und Geschichte der Fotografie in Deutschland!

Anscheinend zu viel, denn nach Wolfs Emeritierung waren dem Kölner Institut quasi die Hände gebunden, die Stelle entfiel. Man bemühte sich um zusätzliche Mittel, die jedoch für eine Neu- bzw. Wiedereinrichtung einer Nachfolge-Professur nicht ausreichten. Zur Beibehaltung des 2004 eingerichteten Fachgebiets wurde sodann die Position einer Akademischen Oberrätin ausgeschrieben. Habilitiert sollte man dafür bitte schon sein, verdienen darf man freilich nur ca. 65 % einer W3-Professur. Da es sich ohnehin nur um eine auf vier Jahre befristete Stelle handelt, welche die bislang noch nicht gefundene Stelleninhaber*innen zum baldigen Wechsel zwingt, scheint für Studierende eine Diskontinuität der Lehre festgeschrieben. War also seit 2015 ein leichter Optimismus zur Verbesserung der Ausbildungssituation für Foto-Historiker*innen feststellbar, muss man nun einen klaren Rückschritt konstatieren. Nun gilt: Wer das Themenfeld eingehend studieren will, kann aktuell wirklich nur nach Essen gehen.

Aus einer bildungspolitischen Perspektive darf man natürlich darüber räsonieren, ob eine Professur mit eben diesem engen Zuschnitt auf Theorie und Geschichte der Fotografie für Kunsthistoriker*innen überhaupt  sinnvoll ist. Gibt es denn etwa analog eine Professur, die sich mit nur einem Medium auseinandersetzt? Verengtes Expert*innentum statt Öffnung? Schließlich wollte (und will) man doch das goldene Kalb einer übergreifenden Mediengeschichte hegen und pflegen – so zumindest die inhaltliche Idee der 70er Jahre, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine fast bereits abgeebbte Renaissance erlebte. Genauer betrachtet gibt es fachintern jedoch sehr wohl vergleichbare Spezifikationen, deren Bestand zurecht nicht zur Debatte steht: Zum einen die Theorie und Geschichte der Architektur und darüber hinaus auch die hiervon oft nicht weit entfernte Spezialisierung Denkmalpflege (u.a. Universitäten Aachen, Bamberg, Dessau, Frankfurt (Oder), München). Warum also nicht auch eine zweite, dritte oder x-te Professur für Theorie und Geschichte der Fotografie im großen europäischen Bildungsland Deutschland? Schließlich gibt es Hochschulen und Universitäten in Berlin, Leipzig, München, Düsseldorf, Frankfurt oder Braunschweig, wo dies aus verschiedenen Gründen sehr naheliegend platziert wäre.

Beide Baustellen belegen eine dringliche Aktualität von Kultur- und Bildungspolitik, die gegenüber einer Pandemie resistent bleibt. Sie zu verzögern oder gar zu ignorieren, schadet dem Wissensstandort Deutschland.

Stefan Gronert

…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover

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