Neue Bildwelten?

Text-to-Image-Bildgeneratoren werden derzeit bis in die Tagespresse hinein mit großer Begeisterung diskutiert. Nachfolgend möchte ich untersuchen, in welchem Verhältnis diese bildgebende Technologie zu fotografischen Prozessen steht. 

Hierzu greife ich auf das in meinem Buch “Photographic Objects” (2012) entwickelte Theorie-Modell zurück, welches das “Fotografische” als eine indexikalisch-technologische Transformation von Input in Output definiert: Indexikalisch bezieht sich auf eine physikalische Verbindung zwischen vorhandenem Input und daraus abgeleitetem Output. Diese physikalische Verbindung kann beispielsweise durch Licht, digitale Datenströme oder Abguss-Verfahren hergestellt werden. Technologisch meint, dass diese indexikalische Verbindung aus einer auf Wiederholbarkeit ausgerichteten Transformation hervorgeht. Mit anderen Worten: Mehrfach mit denselben Parametern angewendet, führt die Transformation zu Ergebnissen, die in der ästhetischen Gewichtung des Betrachters hinreichend gleich sind, um als “reproduktiv” wahrgenommen zu werden.

Nun aber zum eigentlichen Kern der Betrachtung: Text-to-Image-Bildgeneratoren erzeugen zu vorgegebenen Suchbegriffen statistisch plausible Bildergebnisse. Beispielsweise führt die Eingabe “John F. Kennedy mit Dackel” zu einem Suchvorgang unter sehr vielen zuvor gelabelten Bildern. Jeder in diesem Suchvorgang als “passend” identifizierte Bilddatensatz wird mit Unschärfe (“Noise”) überdeckt und zwar so weit, bis nur noch wenige einzelne Pixel des Ursprungsbildes übrig bleiben. Im zweiten Schritt werden dann sehr viele verschiedene dieser nun unscharfen Bilder überblendet. Im Ergebnis entsteht eine “statistische Punktwolke”, da im Output durch die Überlagerungsprozesse für den Suchbegriff “typische” Pixel-Ansammlungen visuell zusammengeballt werden.

Inwieweit ist dieser Prozess fotografisch, also indexikalisch-technologisch? Um diese Frage zu beantworten, werfen wir einen Blick auf das Werk von Thomas Ruff. Vor rund 22 Jahren, im Jahre 2001, konnten die ersten Arbeiten der “Substrate”-Serie betrachtet werden. Für diese Serie suchte Ruff mit einer Internet-Suchmaschine – also bereits damals mithilfe einer KI-Technologie – nach Bildern zum Suchbegriff “Manga”. Aus dem Suchergebnis wählte Ruff eine Vielzahl von Datensätzen, belegte diese Bildinformationen mit Unschärfe und überblendete sie schließlich digital (dies alles mit Hilfe des Programms “Photoshop”). Die im Ergebnis entstehenden bunten Farbwolken druckte Ruff schließlich mit einem Inktjet-Drucker auf Papier. 

Vergleicht man die zuvor beschriebenen Bildfindungsstrategien, also Text-to-Image und das von Ruff angewandte Konzept, so wird ersichtlich, wie sehr sich beide ähneln. Bestätigen lässt sich dieser Eindruck, wenn man im Text-to-Image-Generator den Suchbegriff “blurred colorful manga images superimposed” eingibt. Dann entstehen nämlich Bilder, die in Ausschnitten den Substraten von Ruff nahezu entsprechen.

Zur Illustration der vorstehenden Überlegung hätte man alternativ im Jahre 2000 entstandene Arbeiten Ruffs aus der “l.m.v.d.r.”-Serie verwenden können, in denen Ruff mehrere Innenansichten eines Mies van der Rohe-Gebäudes digital überblendet und zu einem virtuellen, Bildinformationen stark verdichtenden Abbild verschmilzt. Auch die Serie “Andere Portäts” aus dem Jahre 1994/95 greift auf eine vergleichbare Strategie zurück: Hier mischt Ruff Einzelbilder zu virtuellen Porträts nicht existierender Personen und druckt diese als Siebdruck auf Papier, diesmal durchweg unter Einsatz analoger Technologien.

Zusammenfassend wird deutlich: bereits vor einem viertel Jahrhundert haben Bild-Findungsstrategien wie man sie heute in Form von Text-to-Image Bildgeneratoren wieder findet, Künstler inspiriert und es entstanden Bilder, die spätere Entwicklungen im Bereich der Massen-IT-Technologie vorwegnahmen.

Sind die erwähnten Arbeiten Ruffs (und damit auch die Bilder aus dem Text-to-Image-Generator) nun aber fotografisch, also indexikalisch-technologisch? Wie ich in “Photographic Objects” ausführlich dargelegt habe, lautet die Antwort auf diese Frage: Ja. Jeder einzelne Transformations-Schritt bei der Erzeugung dieser Bilder ist indexikalisch-technologisch. Sowohl die Verunschärfung von Bilddatensätzen mit einem digitalen Filter als auch die Überblendung mehrerer solcher Bilddatensätze. Im Ergebnis ist daher auch die Verkettung aller einzelnen Transformationsschritte indexikalisch-technologisch, also fotografisch.

Wieso üben die mithilfe dieser Prozesse erzeugten surrealistischen Bildwelten einen ästhetischen Reiz auf uns aus? Möglicherweise empfindet das menschliche Gehirn, dass die abstrahierende Strategie, Einzeleindrücke durch gezielte Auflösungsreduktion abzuschwächen und durch Überlagerung zu einem neuen “repräsentativeren”, wenngleich surrealen Gesamtbild zu verschmelzen, unserer natürlichen Wahrnehmung von “Realität” nahekommt. Wenn wir erinnern, erinnern wir keine präzisen Bilder, sondern abstrahierte, unscharfe Eindrücke, die in unserer Wahrnehmung verschmelzen.

Abschließend möchte ich noch auf einen weiteren Aspekt eingehen: Mit zunehmender Leistungsfähigkeit und Verbreitung zeitbasierter Virtual Reality-Anwendungen erscheint die Fähigkeit zur Dokumentation von Erfahrungen im virtuellen Raum an Relevanz zu gewinnen. Interessant ist daher, dass im Werk Ruffs Beispiele solcher Dokumentationen von virtuellen Reisen zu finden sind.

2008 hat Ruff für die Serie “zycles” mathematische Formeln (Zykloide) im virtuellen 3D-Raum arrangiert, durch den er dann am Computer reisen konnte. Einzelne Ansichten in diesem von Ruff erlebten Virtual Reality-Umfeld wurden als Inkjet-Drucke auf Leinwand fixiert. 2022 hat Ruff für die Serie “d.o.pe.”, eine Visualisierung der Mandelbrot-Menge, also ebenfalls eine durch mathematische Formeln beschriebene virtuelle Realität, durchwandert und dabei einzelne Ansichten als Digitaldruck auf Teppich fixiert. Beide Serien erscheinen auch vor dem hier besprochen Hintergrund eine besondere konzeptuelle und kulturgeschichtliche Relevanz aufzuweisen.

(Da Illustrationen in diesem Blog aus gestalterischen und technischen Gründen auf eine Abbildung begrenzt sind, kann mit dem nachfolgenden Link eine Kurzpräsentation heruntergeladen werden, die das Besprochene anhand von Beispielbildern illustriert.)

Markus Kramer

…ist Fototheoretiker und Sammler aus Frankfurt

 

BU: Thomas Ruff, d.o.pe.04 I, 2002

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