Kunstvoll und vergangen. Zur Gegenwärtigkeit von Fotografie und deren Evidenz

Welche Wechselbeziehungen herrschen zwischen der Zeit einer Darstellung und der Evidenz, die sich aus dieser rückwirkend für uns, die später Hinzugekommenen, ergibt?  “Die Zeit ist der bedeutsamste Faktor, erst sie schmiedet Werke zur Haltbarkeit, trennt das Gelungene vom Genialen, das Zeitgenössische vom Überzeitlichen“, so meinte unlängst Eva Menasse (in: DIE ZEIT, 5.1.2022, S. 50).

So treffend diese Definition der Schriftstellerin auf den ersten Blick erscheint, so sehr erzeugt sie doch gleich eine Kette von notwendigen Nachfragen: Wie kann die Zeit selbst eine Äußerung zu einem aktuellen Werkstatus abgeben? Und wenn ja in welchem Medium spricht diese Zeit? Fehlt in Menasses Bestimmung nicht ein systematisch vorausgesetztes Gegenüber des Werkes: die Rezipierenden und ihre speziellen Fähigkeiten? Und wenn ja, warum eigentlich? Die Zeit ist der Gegenspieler dessen, was Betrachtende als Evidenz erfahren oder zumindest erfahren können. Evident ist nicht etwa, was auf einem Bild oder wie etwas wie ein Bild erscheint, sondern, was die Zeit einer Betrachtung hier und jetzt als Evidenz behauptet. Dass beispielsweise die je eigene Lebenszeit zur Zeit des Mediums Fotografie gehört, haben Fotograf*innen von Beginn gespürt oder geahnt; als fotografisch vermittelte und dadurch veränderte Form von Lebenszeit wurde sie jedoch wenig thematisiert. Der Blick aus einer Fotografie erzählt rückwirkend von den Erwartungen ihrer  Anwender*innen.  Indem sie etwas unbestimmtes, abseitiges im Foto erkennen, erkennen sich die suchend Blickenden im Foto als Gegenwärtige – so kunstvoll und scheinnbar vergangen es ihnen erscheinen mag. Das Bild, das wir uns von der Fotografie machen, verwandelt sich so zu einer anthropozänen Erzählung, deren Evidenz wir an uns selbst, der Art und Weise unseres Blicks, zu beobachten versuchen.      

Wie zeitbedingt ist also eine Form der Wahrheit, die sich selbst für andere als evident erweist oder so tut als ob? Und wie  öffentlich/relevant  wird dabei eine Evidenz, die bislang als zeitlose historische Wahrheit Geltung beanspruchte? Eine Evidenz verkörpert eine nach Aussen hin geformte Beziehung, die eine Transformation vom Individuellen, Zufälligen zum Öffentlichen, Gemachten sichtbar werden lässt. Alles, was evident geworden ist, ist folglich auch öffentlich gemacht worden. Was nicht evident gemacht wird ist noch unveröffentlicht – aber bereits anwesend. Es wird deutlich, dass eine Fotografie auf einem evident gemacht Moment aufbaut:  etwas wurde belichtet, ist aber zugleich nicht evident, indem etwas Un-Bestimmtes später evident gemacht wird. Fotografie macht scheinbar Unsichtbares als Nicht-Evidentes sichtbar und lässt Reproduziertes wie gegenwärtig, also in zeitlicher Weise evident erscheinen. Eine Fotografie ist „selbst“ nicht evident, sie lässt für diejenigen eine bestimmte Evidenz aufscheinen, indem sie mit Mitteln von Sprache zu einem Medium des Öffentlichen gemacht wird. So wie Freiheit erst dann entsteht, wenn sie als Eigene im Verhältnis zu den Freiheitsrechten anderer gesehen wird, so entsteht Fotografie erst indem deren Nicht-Evidenz im Verhältnis zum jetzt Evident-Gemachten bewusst gemacht wird. Der Anspruch jeder und besonders einer hier ausgewählten Fotografie entsteht in und mit ihrem jetzt explizit gemachten Evident-Werden. Eine fotografische Oberfläche ist – unabhängig von ihrem analog oder digitale erzeugten Modus – nach Roland Barthes eine Emanation einer vergangenen Wirklichkeit, zeigt aber eine Evidenz, die auf der Paradoxie ihrer gleichzeitigen Noch-nicht-explizit-gemachten Evidenz beruht. Irgendwann im Laufe einer Zeit und eines bestimmten Rezeptionsmodus wechselt eine Fotografie ihren Status von einer Oberfläche zum Bild, vom belichteten Objekt eines Bildträgers zu einem gedeuteten Bildsubjekt einer auch für andere nutzbaren Information. Unabhängig von der alten, heute nicht mehr ganz aktuellen Frage nach dem Kunst-Status, steht heute die  zeitlich kommunikative Wahrheit des Fotografischen im Fokus der Interessen.  

Das Foto ist vergangene Wirklichkeit    kommuniziert aber im Einzelfall, und zwar immer erst später, eine zu allererst mich betreffende, monströse Evidenz: „Jetzt erst habe ich begriffen, wieso mich gerade dieses Foto ein Leben lang begleitet.“ So oder so ähnlich könnte man heute Roland Barthes legendäres „punctum“ radikalisieren. Nur Barthes selbst konnte ahnen, warum ihn das Foto seiner Mutter begleitete doch verweigerte es gerade deswegen seinem Publikum. Dieses Bild sollte nur ihm – und zwar allein ihm – gehören. 

Im „punctum“ einer Fotografie überkreuzen sich zwei soziale Einstellungen der Moderne:  der Anspruch eine Fotografie vollständig lesen zu wollen und die Erwartung es vollständig in diesem Moment besitzen zu können. Insofern ähnelt das „punctum“ einer monströsen Form einer inneren grenzüberschreitenden Aneignung.  “Das Monströse an sich besitzt immer Inszenierungscharakter, ob gewollt oder ungewollt, da es unweigerlich die Blicke, die Aufmerksamkeit auf sich zieht. ….. [Auch und vor allem die]  Monstrosität liegen im Auge des Betrachters.” (Lisette Vieweger, Die Inszenierung von Monstrosität im 19. Jahrhundert, München 2009)   

Der Preis für die heute neu bewertete Vergangenheit (in) einer Fotografie wird mit der Möglichkeit bezahlt, aus der unwahrscheinlich Nicht-Evidenz eine  neuartige Theorie-Erzählung  konstruieren zu können. Mit anderen Worten: Fotografien sind ausdrücklich nicht evidenz-basiert, fragen jedoch genauer nach den Gründen und steigern dadurch zusätzlich deren Differenzierbarkeit zwischen deren beteiligten zeitlichen und sachlichen Dimensionen.      

Michael Kröger

… ist freier Kurator und Autor (www.mikroeger.de)

BU: Michael Kröger, Museumsshop Kunstpalast, März 2022

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