Die Geschichte der Fotografie in den USA ist, wie man weiß, anders als in Europa verlaufen: Nach den auffälligen Parallelen, ja Überkreuzungen in der frühen Moderne kommt es durch den zweiten Weltkrieg zu einem Bruch. Während das Geschehen jenseits des Atlantiks in gemilderter Form weiter durch Allianzen und Differenzierungen zwischen dem Kunst-Kontext und dem „jungen“ Medium geprägt ist, erfährt sie in Europa (am wenigsten noch in Frankreich) einen tiefen Einschnitt.
Ganz so einfach ist es dann aber natürlich doch nicht, denn auch in den USA, wo es zwar in einigen wenigen Museen fotografische Abteilungen gab, spielte die Fotografie im Kunst-Kontext zunächst eine eher randständige Rolle. Die großen Heroen des Dokumentarismus wie Ansel Adams, Aaron Siskind oder Edward Weston werden dann freilich von den Conceptual Artists souverän ignoriert. Unter dem Eindruck einer tendenziell anti-ästhetischen Haltung nimmt der Amateurismus eine rebellische Gestalt ein – das hat uns Jeff Wall mit seinem mittlerweile kanonischen Aufsatz „Marks of Indiffenrence“ (1995) eindrücklich vorgeführt. Die passende Ausstellung dazu hat Douglas Fogle 2003 im Walker Art Center unter dem Titel „The Last Picture Show“ kuratiert und dazu einen Katalog ediert, der in der Bibliothek von Fans neuerer Fotografie stehen muss, denn er beinhaltet nicht nur aktuelle wissenschaftliche Beiträge, sondern auch zeitgeschichtliches Material.
So bedeutet gleich der erste Text dieses Kataloges (im Anschluß an Fogles Einleitung) eine Entdeckung: „Artists and Photographs“ von Lawrence Alloway begleitete 1970 eine Box, die bis dahin nur wirklich Eingeweihten bekannt war und die von Multiple Inc. in New York herausgegeben wurde. Freund*innen des Multiples und der Grafik mag diese Institution bekannt sein, in der Foto-Gemeinde ist dies freilich kaum der Fall.
Nun aber dürfte sich dies ändern, da soeben ein Werkverzeichnis dieses Unternehmen erschienen ist, das von 1965 bis 1992 existierte. Begründet wurde es durch die legendäre New Yorkerin Marian Goodman, die nach den mehr oder weniger erfolgreichen Anfängen dieses Editions-Unternehmens im Jahre 1977 ihre Galerie eröffnete. Begleitet von zwei Quellentexten wird der Band profund eingeleitet durch einen Überblickstext des stets souverän und kenntnisreich argumentierenden Dieter Schwarz, ehemals Direktor des Kunstmuseum Winterthur. Freunde des europäisch-amerikanischen Kunstmarktes und vor allem Grafik-Kurator*innen werden über diese Publikation jubeln!
Zugegeben: Foto-Fans mit Scheuklappen kommen bei der Lektüre des ca. 90-seitigen Katalogteils nicht wirklich oder besser: nur begrenzt auf ihre Kosten. Falls sie die oben erwähnte, von Dan Graham designte Box „Artists & Photographs“ nicht schon einmal selbst in den Händen halten durften, lernen sie, dass darin von Bochner, über Dibbets, Nauman, Ruscha, Smithson oder Warhol alle Fotografen (wohlgemerkt: Männer) darin mit insgesamt 19 unterschiedlichen Beiträgen vertreten waren, die damals Rang und Namen besassen. Zumeist handelt es bei den Beiträgen um Publikationen, also Künstlerbücher oder das, was man archivarisch heute gern Ephemera nennt. Immerhin: beeindruckendes Material, das auch Eingang in Museums-Sammlungen fand, aber dennoch als ein betriebswirtschaftlicher Flop in der Produktion von Multiples Inc. galt, weil die viel zu hohe Auflage von 1.200 Exemplaren sich nur schwerlich bzw. gar nicht verkaufte und später deshalb auch in großer Zahl entsorgt wurde. Ein weiteres Beispiel dafür, dass Fotografie um 1970 in den USA doch noch kein wirklicher Erfolgsschlager war.
Eine wirkliche, mir zumindest bis zum Erscheinen des hier vorgestellten Buches unbekannte Überraschung aber ist der Umstand, dass Marian Goodman fünf Jahre später unter dem gleichen Titel einen erneuten Versuch mit der Fotografie unternahm. 1975 waren es lediglich sieben künstlerische Beiträge, nun als wirkliche Prints, die in einer Auflage von lediglich 60 Exemplaren erschienen. Erneut handelt es sich um “big names”: John Baldessari, Bernd & Hilla Becher (die ja damals durch ihre Galerie Sonnabend schon in New York bekannt waren), Marcel Broodthaers, Jan Dibbets, Ger van Elk, Ed Ruscha und William Wegman – begleitet von einer Broschüre mit einem Text des heute wohl nur Warhol-Expert*innen bekannten Journalisten David Bourdon. Bezeichnenderweise ist eben auch diese Mappe fast in Vergessenheit geraten: Auch in den USA war die künstlerische Fotografie noch Mitte der siebziger Jahre weit von einem Boom entfernt.
Über dieses seltene Portfolio hinaus können wir medial beschränkten Enthusiasten leider nichts weiteres in diesem tollen Buch lernen (abgesehen von Abbildungen). Zukünftige Forscher*innen aber sollten bei der Frage nach der Rezeption künstlerischer Fotografie in den USA der siebziger Jahre hieran nicht vorbeigehen.
Wie auch immer: Die 148 Seiten starke Publikation offenbart nicht nur einen entscheidenden Grundstein einer der weltweit erfolgreichsten Galerien, sondern zeigt auch wie das Modell von Editionen in den sechziger Jahren den kommerziellen Aufschwung einer vorgeblichen Welt-Sprache einleitete: Kunst!
Dieter Schwarz (Hrsg.), Multiples Inc: 1965-1992, New York: Marian Goodman Gallery / Köln: Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König 2021
Stefan Gronert
…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover