Kein Kompendium: Das Buch zu Wolfgang Tillmans: Perspektive

Das Museum of Modern Art ist nicht mehr der Nabel der Kunst-Welt. Spätestens im 21. Jahrhundert hat es seine Vorbildfunktion verloren – das gilt auch und vielleicht besonders für das Feld der Fotografie. Nachdem sich hier einmal der qualitative „Richterstuhl“ (Christopher Phillips) befand, ist der alte Glanz passé. Zweifellos erfährt man immer noch eine große Würdigung, wenn man hier ausstellt. Doch eine ähnlich große Wertschätzung kann man längst auch an anderen Orten erlangen. 

Der gebürtige Remscheider Wolfgang Tillmans, vor 22 Jahren bereits Turner Prize-Gewinner, musste dennoch 54 Jahre alt werden, um in die braven Hallen an der 53 Str. von Manhattan einzuziehen, erhielt dafür aber auch umfangreiche Räumlichkeiten. Die sage und schreibe 91 Installationsfotos auf der Homepage des MoMA vermitteln jedenfalls einen atemberaubenden Eindruck. 

Wer jedoch den Weg nach New York in diesem Jahr nicht schafft, darf sich mit einem 320 Seiten großen Katalog begnügen, der in einer englischen und einer deutschen Ausgabe erschienen ist. Überdies bietet das Museum einen Reader mit Beiträgen des Künstlers selbst an, der noch umfangreicher ist. Und der geschäftstüchtige Taschen Verlag legt mit einem (weitgehend auf das Frühwerk konzentrierten) Überblick noch einmal 200 Seiten mehr drauf. Wer so viel wirklich benötigt, möge sich bedienen. Mehr Pop war nie, was man allerdings nicht negativ, sondern als Wertschätzung des Mediums sehen kann.

Fokussieren wir uns als selbst ernannte Theoretiker aber nun auf den großen, von Senior Curator Roxana Marcoci herausgegebenen Ausstellungskatalog, dann entdecken wir Beiträge von 15 Autor*innen, die im gut gedruckten Bild-Wucher dennoch beinahe unterzugehen drohen. Am Rande sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass in der Auswahl der Autor*innen erneut die amerikanische Selbstverliebtheit zum Ausdruck kommt, die einer Stimme aus der sprachlichen Heimat des Berliners keinen Raum gibt, stattdessen aber – dem Gesetz des name-droppings folgend – den berühmten, heute 70-jährigen Yves-Alain Bois aus Princeton um einen Essay zum Thema der Installation bat. Im Rahmen dessen gibt dieser mit calvinistischer Scham sodann zu, dass er zu bestimmten Werkkomplexen von Tillmans keinen Zugang besitzt, denn „ich war noch nie in einer Diskothek oder einem Club, ja noch nicht einmal in einer Schwulenbar. Ich habe keine Ahnung von Mode oder Tanzmusik, ja eigentlich von jeder Art von Popmusik“ (S. 171) – vielleicht wirklich nicht die besten Voraussetzungen…

Die unterschiedliche Perspektiven dieser Texte entwerfen darüber hinaus ein heterogenes Bild – was dem Werk des Künstlers auch genau angemessen ist. Im Unterschied zu einem klassischen Katalog verzichtet der Band übrigens auf den konventionellen Anhang mit Ausstellungsverzeichnis und Bibliografie – vielleicht ein Tribut an das Zeitalter des World Wide Web einerseits und an das Bedürfnis nach breitenwirksam verkäuflichen Coffee table-books andererseits.

Dass Masse nicht automatisch wirklich Klasse bedeutet, ist nun eine Binsenwahrheit. Beleuchten wir unter dieser Prämisse die Qualität der Beiträge. Hervorzuheben ist hier die vielleicht etwas nüchterne biografische Perspektive von Marcoci, die in ihrer Ausführlichkeit als solche wertvoll ist, aber den etwa zur Jahrtausendwende einsetzende Wandel von einem Szene-Magazin-Fotografen zu einem extrem vielfältig agierenden Künstler leider nicht wirklich prägnant herausarbeitet. Dies leistet stattdessen ihr ehemaliger MoMA-Kollege Quentin Bajac in seinem Beitrag über die seit 2000 entstehenden abstrakten Bilder (S. 219-221). Als Zitat des Künstlers fällt hier bezeichnenderweise auch der Begriff „Neubeginn“ (S. 220). Bemerkenswert ist auch Bajacs Klage, dass abstrakte oder experimentelle Bilder im Foto-Diskurs – anders als in der Diskussion des Films – oft lediglich als Rückzug, Diskursverweigerung oder Formalismus eingestuft und somit deren politische oder kritisch-soziale Dimension ausgeblendet werden. Darüber sollte man wirklich mal nachdenken. Nicht viel weniger interessant ist der Essay von Marcocis Noch-Kollege Clément Cheroux, der sich der Spannung von Zwei- und Drei-Dimensionlität in Tillmans Werk widmet. Abgesehen von einer kommentierten Biografie kommt dann aber nicht mehr viel Neues in einer Monografie, die bedauerlicherweise vergleichende, kontextualisierende Seitenblicke zu historischen oder zeitgenössischen Positionen kaum berücksichtigt. In diesem Sinne etwa versäumt Michelle Kuo in ihrer durchaus originellen Betonung des astronomischen Interesses von Tillmans (S. 277-279) den Vergleich mit Thomas Ruff, der doch nicht nur in kulturgeschichtlicher Hinsicht erhellend gewesen wäre. Ein Highlight des Bandes sei abschießend freilich noch genannt, denn unter produktionsästhetischen wie auch konservatorischen Gesichtspunkten unbedingt empfehlenswert ist auch Tillmans eigener Beitrag „Auf Papier“(S. 301-303), der sein wirklich reflektiertes Vorgehen in der Nutzung des Materials offenbart: Der Traum jedes Museums-Freaks!

Alles in allem verfestigt der Band den keineswegs neuen Eindruck, dass Tillmans ein Künstler des 21., weniger des 20. Jahrhunderts ist, dessen Vielfalt nur von wenigen Zeitgenossen erreicht wird. Der zur Ausstellung erschienene Band ist ein wenig zu ausufernd, wenn auch kein Kompendium, so doch partiell ein lohnenswertes Buch, das die eigene Bibliothek belastet und das Konto mit 49 € natürlich auch.

Wolfgang Tillmans: Perspektive – To look without fear, hrsg. v. Roxana Marcoci, (Ausst.-Kat.) New York/San Francisco/Toronto, Köln: Verlag der Buchhandlung König 2022, 320 S., 49,- €

Stefan Gronert

…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover

 

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