Gibt es grundlegende Neuerungen in der zeitgenössischen Foto-Geschichte? Und falls ja: Beziehen sich diese auf das Medium oder auf die Historiografie desselben?
Zunächst einmal darf man feststellen, dass die Geschichte der Fotografie in weiten Teilen als eine Geschichte der Motive verfasst wird. Selbst wenn ich an dieser Stelle einmal die von vielen Studierenden formulierte Frage nach einer empfehlenswerten Publikation zum entsprechenden Fachbereich einmal ausdrücklich nicht beantworten will, sei die allgemeine Behauptung aufgestellt, dass sich die motivgeschichtliche Verengung im Blick auf die Fotografie der letzten vier, fünf Dekade nicht erweitert hat. Der viel beschworene digitale Wandel, der sich nicht allein auf technische Aspekte beschränkt, scheint an der Geschichtsschreibung spurlos vorbei gegangen zu sein.
Die Fokussierung auf die Motivgeschichte, mithin die abbildliche Dimension des Fotografischen, fällt in der klassischen Buchform freilich nicht weiter auf – sehr wohl jedoch, wenn man den Originalen gegenübersteht. Spätestens dann wird bewusst, dass ein künstlerisches Foto mehr als ein Dokument ist. Dass kleinformatige Foto, konventionell mit Passepartout gerahmt, gehört der Vergangenheit an, was nicht heißt, dass es jenes überhaupt nicht mehr gibt. Jedoch haftet derartigen Präsentationen automatisch eine historische, wenn nicht gar historistische Dimension inne. Insofern muss jede Historie zumindest der neueren Fotografie die spezifische Erscheinungs-Weise fotografischer Bilder ausdrücklich berücksichtigen.
Aber von welchem historischen Rahmen ist die Rede, wenn hier das Attribut des Zeitgenössischen beschworen wird? Rufen wir uns kurz in Erinnerung, dass die Zugehörigkeit zum (mitteleuropäischen) Kunst-Diskurs erst in den ausgehenden 70er Jahren wieder erstritten wurde – also vor fast 50 Jahren. Dieser Horizont ist mittlerweile sehr weit gefasst, so dass ich eine heuristische Beschränkung auf die vergangenen drei Jahrzehnte vorschlagen möchte.
Was ist in diesem Zeitraum geschehen? Ein entscheidender Wandel betrifft das so genannte Display, die Erscheinungs- und Präsentationsform der neueren Fotografie. In dieser Hinsicht gibt es in der wissenschaftlichen Literatur zahlreiche Beiträge zum Wandel der Bild-Größe, in historiografischer Hinsicht etwa zuletzt von Steffen Siegel.
Dass in diesem Zusammenhang dem Kanadier Jeff Wall mit seinen großen Leuchtkästen seit 1978 eine Vorbild-Funktion zukommt, muss nicht lange erläutert werden. Für den deutschen oder europäischen Kontext wird häufig der „Einfluss“ der Düsseldorfer Fotografie bemüht. Die Namen von Thomas Ruff und auch Axel Hütte werden hier vorrangig genannt. Der Ansatz von Günther Förg wird dabei gern vergessen. Schwerwiegender scheint jedoch – speziell unter genderpolitischen Gesichtspunkten – die Nicht-Erwähnung der historischen Pionierrolle von Katharina Sieverding, die bereits 1977 (also sogar noch vor Wall) in ihrer Einzelausstellung im Essener Folkwang Museum ungerahmte chromogene Prints von mehr als 3 m Höhe und mehr als 4 m Breite gezeigt hat. – So viel nur am Rande.
Aber mein Plädoyer für eine Rehabilitierung des Originals geht über das Thema der schieren Größe hinaus. Eine noch ungeschriebene Geschichte der neueren Fotografie müsste überdies Aspekte wie die Rahmung, die zunächst dank des 1973 von Halbe erfundenen Magnet-Rahmens einen Aufschwung fand und sodann in den 90er Jahren durch massive Eichenleisten eine weitere Nobilitierung erfuhr. Auch Präsentationsweisen und Hängungen von Serien- oder Reihen sind im Hinblick auf die Frage von Meisterwerk-Anspruch des singulären oder des mehrteiligen Bildes gerade im Vergleich zwischen den 70er und 90er Jahren zu untersuchen. Und in den letzten Jahren kann man sicher verstärkt eine installative bzw. raumbezogene Präsentation stärker beobachten.
Al dies beeinflusst die visuelle Begegnung mit dem Original entscheidend. Wer das leugnet, interessiert sich lediglich für Reproduktionen von Kunst, nicht für diese selbst. Wer über Bilder schreibt oder redet, sollte diese realiter gesehen haben – oder schweigen. Ich würde deshalb programmatisch von einer Dominanz des Displays sprechen, die für die zeitgenössische Fotografie grosso modo charakteristisch ist. Dieses inhaltlich zu berücksichtigen ist eine forderung jedweder wissenschaftlicher Arbeit zu diesem Thema.
Stefan Gronert
…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover