Auf der Suche nach neuen dokumentarischen Praktiken

Vorbei die Zeit, in der man an der Fachhochschule Hannover (seit 2010: Hochschule Hannover) vor allem auf das strenge Regelwerk der traditionellen Bildreportage fixiert war. Vorbei die Zeit, in der es vor allem darum zu gehen schien, Leiden und Freuden dieser Welt in möglichst eingängig-bewegenden, den Zeitökonomien von Magazinseiten folgenden Bildgeschichten zu dokumentieren. Zwei umfangreiche Bände entstanden seit 2018 als Ergebnis zweier Symposien an der Fakultät Fotojournalismus und Dokumentarfotografie der Hochschule.

Herausgegeben von Karen Fromm, die hier als Professorin Fototheorie, fotografische Bildsprachen und das Dokumentarische in der Fotografie unterrichtet, und ihren Kolleg*innen Sophia Greiff, Anne Stemmler und Malte Radtki, belegen sie, wie offen und unvoreingenommen inzwischen auch an diesem Ort über Fotografie nachgedacht wird. Vor nicht allzu langer Zeit noch hatte es geheißen, man verstehe den Bildjournalismus als Kampfansage an die Fotografie im Museum. Nun wird ein breites Feld im Kontext Kunst erarbeiteter und diskutierter Strategien dahingehend überprüft, was sie in dokumentarischen Projekten zu leisten vermögen.

Denn das Dokumentarische wird nun, so die Herausgeber*innen im aktuellen Band IMAGE/CON/TEXT/, als „kontextbedingtes, gleichsam mobiles Konzept [verstanden], … in dem sich dieses gerade dadurch auszeichnet, dass es permanent infrage gestellt und wieder bestätigt werden muss“. Die Arbeiten, um die es nun gehe, suchen – entgegen der in journalistischen Publikationen üblichen Koppelungen von Visuellem und Verbalem – durch die Integration unterschiedlicher Materialien und Zeugenschaften „einer Vereindeutigung der semantischen Ebene zu entgehen“. Der frische Wind tut gut und reicht bis ins Museum.

352 sorgfältig gestaltete Seiten bieten ca. 20 Text- und Bildbeiträge. Eva Leitolf, deren POSTCARDS FROM EUROPA 2013 im Sprengel Museum Hannover zu sehen waren und die hier nun in einem Interview Leitthemen vorgibt, spricht von ihrem Interesse an der Politik der Repräsentation und der Fadheit des Konsums von über Bild-Text-Kombinationen vorproduzierten Sinnzusammenhängen. „Ich möchte, dass mich Arbeiten fordern und beteiligen.“ Diese Haltung durchzieht den ganzen Band. Dass Allan Sekula und Martha Rosler, deren Arbeit 2004 im Sprengel Museum Hannover mit dem Spectrum-Preis für Internationale Fotografie und einer umfangreichen Ausstellung gewürdigt worden war, als Ahn*innen immer wieder durch die Texte scheinen, nimmt kaum wunder.

Insgesamt entwickelt die Publikation ein weites, rhizomartiges Bezugssystem hinein in Strategien der Konzeptkunst und der Appropriation Art, zu den Wort- und Bildkritiken in den Filmen von Jean-Luc Godard (Thomas Helbig) oder gar zu Alexander Rodtschenkos Ideen zu summarischen Porträts und kollektiven Archiven aus dem Jahr 1928 (wie von Helen Petrovsky 2013 in der Sprengel-Publikation BORIS MIKHAILOV. BÜCHER / BOOKS thematisiert). Letztere finden an dieser Stelle in der Arbeitsweise des Kashmir Photo Collective (Alisha Sett) Widerhall. „Recherchebasierte“ Fotobücher werden ebenso besprochen (Anja Schürmann) wie Fotocomics (Friedrich Weltzien). Und auch die im Studio inszenierten Fotografien eines Peter Puklus finden als Reflektionen historischer Narrative Raum im Diskursfeld des Dokumentarischen (Malte Radtki).

Kurz: IMAGE/CON/TEXT/ ist nicht allein für Fotograf*innen, die nach Möglichkeiten der Erweiterung ihrer dokumentarischen Praxis suchen, eine Empfehlung. IMAGE/CON/TEXT/ gibt einen hervorragenden Überblick über die aktuelle Debatte. Nicht zuletzt aufgrund des Sichtbarwerdens der offenbar nach wie vor latenten Abgrenzungsbedürfnisse ist der Band eine anregende Lektüre, etwa, wenn Anja Schürmann formuliert, dass „die Dokumentarfotografie durch die kontextualisierenden und sich selbst thematisierenden Positionen wie Allan Sekula und Martha Rosler selbstreferentiell“ geworden war und nun wieder selbstbewusst werde.

Dass der Einsatz von Bild und Text in den journalistischen Medien nach wie vor weit unter seinen Möglichkeiten bleibt, bestreitet in dieser Runde allerdings niemand. Die Fotografin Laia Abril, vorgestellt mit dem vielschichtigen Rechercheprojekt ON ABORTION. AND THE REPERCUSSIONS OF LACK OF ACCESS, bringt das in diesem Metier nach wie vor existierende Dilemma im Gespräch mit Sophia Greiff auf den Punkt, wenn sie sich „durchaus für den in ihrer journalistischen Ausbildung verinnerlichten moralischen und ethischen Anspruch der journalistischen Praxis aus [-spricht], … sich jedoch nicht durch ein enges Regelwerk in ihren Aussagen begrenzen lassen [möchte]“.

Karen Fromm u.a. (Hrsg.), image/con/text. Dokumentarische Praktiken zwischen Journalismus, Kunst und Aktivismus, Berlin: Reimer 2020

Die begleitende Website ist zu finden unter http://image-matters-discourse.de/

 

Inka Schube

…ist Kuratorin für Fotografie und Medienkunst am Sprengel Museum Hannover

 

Abb: Hochschule Hannover

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