Ein bekannte Kunsthistorikerin, ein noch berühmterer Fotograf, in dem manche DIE Lichtgestalt des 20. Jahrhunderts zu erkennen, ein prominenter Übersetzer und einer der wichtigsten Fotobuch-Verlage überhaupt – was soll da noch schief laufen? Dieses Buch muß man doch wohl gelesen haben! Sollte man denken, aber ist das wirklich so?
Es geht hier um die Biografie zu Walker Evans (1903-1975), verfaßt von der amerikanischen Kunsthistorikerin Svetlana Alpers, übersetzt von Wolfgang Kemp, dem Doyen einer akademischen Kunstgeschichte, die sich in den siebziger Jahren erstmals mit Fotografie auseinandergesetzt hat, und soeben im Umfang von 418 Seiten im legendären Münchener Schirmer/Mosel Verlag erschienen. Kann man zu einem solchen Buch überhaupt ein kritisches Wort verlieren? Peter Truschner jedenfalls hat es umgehend in seiner Rubrik „Fotolot“ des „Perlentaucher-Kulturmagazins“ online verrissen – anders kann man es nicht bezeichnen. Zwar hat sich Truschner mit einer gewissen Hochnäsigkeit dazu bekannt, die Lektüre des Textes nach nur zwei Dritteln beendet zu haben, aber das reicht ihm aus, um zu dem wahrlich vorschnellen Urteil zu gelangen: „Im Gegensatz zur Ansicht des Verlags ragt das Buch weder fachlich heraus, noch ist es von besonderem literarischen Rang. Ich kann es im Grunde niemandem empfehlen.“ Harte Worte und eine Haltung, die von Bernd Stiegler in seiner Besprechung für die FAZ keineswegs so undifferenziert geteilt wird. Trotz kleinerer Kritikpunkte klingt seine Rezension vergleichsweise versöhnlich, um nicht zu sagen: euphorisch.
Gehen wir also einmal sachlich an das Thema heran. Zweifellos ist Alpers eine Hagiographie gelungen, die sich weniger um das Leben als um das Werk eines der zentralen amerikanischen Fotografen des 20. Jahrhunderts widmet. Sie umfaßt ca. 250 Seiten, eignet sich mit nur 301 Anmerkungen und vor allem dank eines unprätentiösen Stils zur unbeschwerten Lektüre und wird zudem um 117 Abbildungstafeln bereichert, deren Referenz zum Text durch seitlich positionierte Verweise eine wahre Wohltat sind. Ausdrücklich hervorzuheben ist auch das 15-seitige Nachwort von Wolfgang Kemp, der Alpers Lesart des Werks von Evans noch einmal fachlich außerordentlich kompetent bereichert.
„Lesart“ ist dabei die angemessene Vokabel um die grundsätzliche Perspektive der Autorin zu skizzieren, versteht sie doch Evans als einen „Literaten“. Sie untermauert diese metaphorisch begründete Sichtweise durch diverse Aussagen des Künstlers und vergleicht seine fotografische Grundhaltung mit derjenigen der französischen Schriftsteller Gustave Flaubert und Charles Baudelaire. Das gelingt mal mehr, mal weniger, ist aber überzeugender als der lediglich originell klingende Vergleich zu den Skizzenbüchern von Paul Cézanne.
Abgesehen von diesen kulturhistorischen Kontextualisierungen, die sie leider zu selten auf die Fotogeschichte ausdehnt, überzeugen freilich die Einzelbild-Betrachtungen von Alpers. An diesem Leitfaden folgt sie der Genese des Werkes eines keineswegs einheitlichen Ansatzes von Kuba, über die FSA-Arbeiten, den „american photographs“, den U-Bahn-Porträts, bis hin zu seinen journalistischen Arbeiten und den späten Polaroids. An der Schwelle zur Werkmonographie mag der fundierte Evans-Forscher hier vielleicht wirklich nur – wie Truschner als ein vorgeblich solcher beklagt – grundsätzlich wenig neue Einsichten gewinnen, aber die einzelnen Werkanalysen und Bildvergleiche entschädigen doch für einiges.
Auch Stiegler kann man freilich folgen, wenn er den von Alpers so hervorgehobenen Prozess des „edierens“ als nicht ausreichend ausgeführt kritisiert. Die mittlerweile 85-jährige Kunsthistorikerin, eigentlich Spezialistin für europäische Malerei des 15. bis 18. Jahrhunderts, will mit diesem Begriff den Vorgang der Bearbeitung des fotografischen Negativs als einen spezifisch künstlerischen Akt betonen, macht aber genau dies nur selten fruchtbar. Obwohl in den Fußnoten deutlich wird, dass die Autorin sich durch das Evans-Archiv des Metropolitan Museums in New York gewühlt hat und auch den Forschungsstand bis in Verästelungen kennt, wird diese vermeintlich so besondere Form des Arbeitens von Evans in ihrem Text mehr postuliert denn wiederholt vorgeführt. Wenn sie es dann wirklich tut, wie z.B. eingangs am Beispiel der „Jungen Frau in der Fulton Street“ (1929), läuft Alpers zu Hochform auf. Hier kann die Foschung in Zukunft noch anknüpfen. Das von Alpers wiederholte Lob vom besonderen „Auge“ des Fotografen bleibt ansonsten nur eine inhaltsleere Pathosformel, welche mehrere Jahrhunderte der Kunstgeschichte durchziehen.
Die voran stehenden Äußerungen scheinen nun vielleicht der extrem kritischen Besprechung von Truschner nahe zu stehen, was dem Eindruck einer sommerlichen Lektüre jedoch nicht gerecht wird. Tatsächlich kann, ja sollte diese Monographie in der Bibliothek von Foto-Fans ihren Platz finden – nach einer, wie gesagt, durchaus umbeschwerlichen, aber den Horizont zweifellos auch erweiternden Leseerfahrung. Es ist nicht das letzte Wort, das hier zu dem phänomenalen Kompositeur Evans gesprochen worden ist, aber ein anregender Überblick über dessen Gesamtwerk wird in diesem wunderbar ausgestatteten Buch sicherlich geboten.
Svetlana Alpers, Walker Evans: America. Leben und Kunst, München: Schirmer/Mosel 2021
Stefan Gronert
…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover