Foto-Theorie NEU gelesen: Steffen Siegel und das Politische der Kunst

Über große Themen muss die zeitgenössische Kunst-Theorie vielleicht keine finalen Aussagen treffen. Die Komplexität einer sich ständig ändernden Wirklichkeit hat Aussagen zu „dem Menschen“, „die Natur“, „das Soziale“ oder „das Politische“ zu so vielen Varianten geführt, dass man sie wohl nur noch in Einzelfallstudien gewinnbringend thematisieren kann. Diese Einsicht teilt auch Steffen Siegel, der einzige akademische Professor für Theorie und Geschichte der Fotografie in Deutschland, der seit 2015 an der Folkwang Universität der Künste in Essen arbeitet.

Das prekäre Verhältnis von künstlerischer Fotografie und Politik hat er deshalb 2020 auch in einem Aufsatz in einem Sonderband der „Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft“ am Beispiel von Jeff Walls großformatigen Bildern diskutiert. Ausgehend von den Debatten um die Documenta 14 (2017) und deren politischer Aufladung fragt er nach der Relevanz der Bilder des kanadischen Künstlers, der eben vielleicht bezeichnenderweise bei jener Ausgabe der selbststilisierten „Weltkunstschau“ fehlte. Siegels besonderes Interesse gilt dabei die Form des Großbildes, einem Signum der Fotografie der neunziger Jahre, dessen historischer „Erfolg“ sich besonders Wall verdankt.

Siegels Beitrag liefert zunächst eine grundlegende Einführung in das Denken und Schaffen des Fotografen, die sich in sprachlicher Eleganz keineswegs im Gewirr von Fußnoten oder allzu kleinteiligen Argumenten Dritter verheddert. Auch wenn er sich bereits zuvor in einem dünnen Band monografisch mit dem Künstler beschäftigt hat, brilliert der Theoretiker und Historiker mit seiner gut lesbaren, geschmeidigen Sprache hier in seinem bevorzugten Terrain des kleineren literarischen Formates.

Die Frage nach dem Politischen bei Wall ist nicht mit einer einfachen Antwort abzuhandeln. Sie muss berücksichtigen, dass der Künstler mit seinem Werk, aber auch – und das ist eine in der Fotografie eher rare Haltung – als Theoretiker spricht. In beiden Bereichen ist aber klar, das kann Siegel anhand einiger historischer Hinweise zur Rezeption plausibel machen, dass der hier relevante Kontext derjenige der bildenden Kunst ist. Das Referat einiger Kritiken dazu, etwa mit dem Hinweis auf den möglichen Verlust „der prinzipiellen Welthaltigkeit des Fotografischen“ (was immer damit gemeint sein mag), verschweigt Siegel keineswegs. Die Besonderheit an Walls Vorgehensweise ist jedoch die von traditionellen fotografischen Ansätzen abweichende Fokussierung auf das Einzelbild. Mit ihm wird eine Auseinandersetzung mit ganz verschiedenen gesellschaftlichen Praxen, Klassen und Themen der Gegenwart ermöglicht. Den Umstand, dass der Kanadier dies auch noch in Bildern außergewöhnlicher Größe macht, sieht Siegel als einen historischen Versuch der Etablierung von Fotografie im Kunstsystem, bemerkt aber kritisch, „dass die mit dem Tableau verbundenen werkpolitischen Motive inzwischen aus der Zeit gefallen sind“. – Ene Erfahrung, die man im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhundert zweifellos gut nachvollziehen kann.

Etwas unvermittelt lenkt der Essener Theoretiker nun den Blick auf die Bild-Motive, deren mehrdeutige Lesart den zeitgenössischen Tendenzen einer Repolitisierung qua Eindeutigkeit nicht entspricht. In Auseinandersetzung mit einer These von Jacques Rancière zu den „Paradoxa der politischen Kunst“ kommt Siegel auf den Dissenz zwischen ästhetischer Artikulation und einer davon zu trennenden politischen Wirksamkeit zu sprechen, da sich semantische Offenheit „nicht ohne Weiteres in außer-ästhetische Zusammenhänge übersetzen und für diese verwerten lässt“.

Das mag zunächst wie ein rezeptionsäthetisch imprägnierter Taschenspielertrick klingen, der die Vertreter einer „Kunst der Revolte“ vermutlich unbefriedigt zurücklassen dürfte. Begründen ließe sich die von Siegel proklamierte Haltung zweifellos mit Hilfe einer rezeptionshistorischen Einzelstudie. Diese jedoch könnte die Frage nach der Angemessenheit des Großtableaus hingegen erst mit Verspätung beantworten. Sind also – einmal weiter gedacht – normative Fragen einzig und allein aus der historischen Distanz zu beurteilen?

Steffen Siegel, Jeff Wall und das Politische. Zur Gegenwart des fotografischen Großtableaus, in: Carlos Spoerhase u.a. (Hrsg.) Ästhetik der Skalierung (= Sonderheft 18 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft), Hamburg 2020

Stefan Gronert

…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover

BU: Jeff Wall, A man with a rifle, 2000

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