Foto-Theorie NEU gelesen: Bernd Stiegler und die digitale Fotografie

Finale Kapitel eines Buches, diese Erfahrung hatten wir schon bei der Lektüre von Wolfgang Kemps „Geschichte der Fotografie“ machen können, haben meist etwas ebenso Visionäres wie Spekulatives. Sie nach einigen Jahren erneut zu lesen, dürfte sich also lohnen. Das gilt auch für DAS Standwerk zur Foto-Theorie, die 2006 erschienene „Theoriegeschichte der Photographie“ des einschlägig bekannten Konstanzer Literatur- und Medienwissenschaftlers Bernd Stiegler.

Überschrieben ist das Kapitel in dieser unverzichtbaren „Bibel“ der deutschsprachigen Foto-Theorie-Geschichte mit dem Titel „Die digitale Photographie“. Ebenso wie Kemp amüsiert sich Stiegler über die unzähligen Nekrologe auf eine Fotografie und referiert einige Meilensteine dieses ermüdenden Abgesangs, die in der Krisenerfahrung einer in den neunziger Jahren einsetzenden Digitalisierung einen abermaligen Höhepunkt erfuhr.

Stiegler versucht deshalb den vermeintlich ontologischen Unterschied zwischen analoger und digitaler Fotografie im Blick auf die Geschichte des Foto-Begriffs zu präzisieren und kommt im Blick auf den Wahrheits-Anspruch des Bildes zu dem ernüchternden (?) Zwischenergebnis: „Sie (= die Fotografien) waren immer schon Ausschnitte, die beanspruchten, ein Ganzes zu sein, schwarzweiße zweidimensionale Abstraktionen, abhängig von Perspektiven, Objektiven, der Lichteinwirkung, Belichtungszeiten, Cadrierungen etc. Die Digitalisierung fügt diesen Faktoren eine Veränderung des Bildträgers hinzu“ und resümiert: „Die Photographie ist nicht länger Lichtschrift, sondern Schrift.“

So weit, so gut. Stieglers messerscharfe Lektüre der Abgesänge auf den vermeintlichen Realismus des Mediums offenbaren aber etwas Abgründiges, das darin besteht, dass die „neue Wahrheit“ des Digitalen nun „Simulation und Virtualität als neue Ontologie proklamiert“. Das ist in der Tat eine über die rezeptionsästhetisch inspirierte Lesart der digitalen Fotografie hinausgehende diskursanalytische Einsicht in einen neu definierten Begriff von „Wirklichkeit“. – Man darf ergänzen, was Stiegler damals noch nicht wissen konnte: Die aktuell aufgeregte Debatte über die Legitimität und Problematik von KI-Bildern fügt diesem neuartigen kulturellen Weltverständnis nichts Neues hinzu, sondern spitzt es erneut lediglich zu.

Und selbstkritisch sei gefragt:  Leistet eine verengte Sichtweise auf Fotografie auf die bildende Kunst, wie sie in unserem Blog stets postuliert wird, einem solchen Wirklichkeits-Verständnis nicht vielleicht sogar Vorschub? Was aber wäre daran verwerflich, denn ein pluralistisches Verständnis des Mediums, das den verengten „Mythos des Realen“ verabschiedet, muss doch nicht problematisch sein – so lange es seine Partikularität als eine solche reflektiert, oder?

Wie auch immer: Wer die Geschichtlichkeit des Fotografie-Begriffs in seiner kulturellen Verbindung mit dem Verständnis von Wirklichkeit und seine Konsequenzen für die Gegenwart in konziser Form verfolgen möchte, dem sei dieses letzte Kapitel des Buches von Bernd Stiegler wärmstens empfohlen.

Stefan Gronert

…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover

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