Die Kamera als Erkundungstool: Fotografieren in der Emigration

Eine verlassene Straße, gesäumt von Stadthäusern und geparkten VW-Käfern, versehen mit Leuchtreklamen und einem emporragenden Wolkenkratzer im Hintergrund. Die Großstadtszene ist menschenleer. Lediglich die erleuchteten Fenster zeugen von Leben, welches sich hinter den Gebäudefassaden abspielt.

Trotz fehlenden Menschentreibens hat die Szene eine lebendige Wirkung: Hell-Dunkel-Kontraste auf den Gebäudefassaden, Wechsel zwischen Nähe und Ferne der Motive und der starke Bildanschnitt erzeugen Spannung innerhalb des Bildes. Ein alltägliches Milieu erhält auf diese Weise eine neue, ungewohnte Perspektive.

Die Künstlerin Käte Steinitz fotografierte diese Szene vermutlich um 1936, kurz nachdem sie von Hannover nach New York emigriert war. Nachdem sie und ihr Mann Ernst zunehmend unter Druck des nationalsozialistischen Regimes gerieten und Steinitz 1935 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wurde entschied sich die Familie, in die Vereinigten Staaten zu emigrieren. In New York fanden sie ein neues Zuhause und Steinitz begann rasch, die neue Wohngegend in ihren Zeichnungen und Fotografien festzuhalten. Während ihrer Spaziergänge durch die Metropole, die sie vor allem durch die Stadtteile Manhattan und Harlem führte, dokumentierte sie Straßenzüge, Architekturen und insbesondere Menschen, die ihr auf ihren Streifzügen begegneten. Ob spielende Kinder, Spaziergänger*innen im Park oder Straßenhändler*innen auf den Bürgersteigen: Menschen im öffentlichen Raum und ihre Interaktionen miteinander stehen im Mittelpunkt von Steinitz‘ Darstellungen in New York und später auch in Los Angeles, wo sie sich 1944 niederließ.

Viele Fotograf*innen nutzten im Exil die Kamera als Erkundungstool, um ihre neue Lebensumgebung intensiv erfahren zu können. Durch die flexible Handhabung und die leichte Transportfähigkeit konnten die Künstler*innen ihren Apparat jederzeit bei sich tragen und Wahrnehmungen im Alltagsgeschehen fotografisch einfangen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass in den späten 1930er-Jahren zahlreiche Aufnahmen entstanden, die das Lebensumfeld geflüchteter Fotograf*innen schildern. Vor allem New York wurde auf diese Weise in neuen Facetten und Perspektiven dargestellt. Als internationale Kunstmetropole war die Stadt ein starker Anziehungspunkt für europäische Künstler*innen, die in den 1930er-Jahren aufgrund des erstarkenden Faschismus und Antisemitismus ihre Heimat verlassen mussten oder bereits zuvor ausgewandert waren, unter ihnen Lotte Jacobi, Ilse Bing, Fred Stein und auch Käte Steinitz. Ihre Aufnahmen zeigen die Stadt aus neuen Blickwinkeln – hinausblickend aus Fenstern, von Wolkenkratzern hinunterschauend oder inmitten von Menschenmengen auf den Bürgersteigen stehend. Ungewöhnliche Perspektiven, starke Dynamiken und überraschende Detailansichten prägen die Arbeiten der emigrierten Fotograf*innen. In ihnen werden neue Sichtweisen auf die Stadtkulisse eröffnet, die vor allem aus dem alltäglichen Erkunden und stundenlangen Gängen durch die Nachbarschaft resultierten. Die Erschließung des neuen Lebensraumes stand somit im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Entdecken neuer Motive und dem Erproben von Stilmitteln.

Steinitz‘ Schilderung einer verlassenen Straßenflucht inmitten von New York bildet ein prägnantes Beispiel für die Fotografie im urbanen Raum nach der Emigration und zeigt auf anschauliche Weise, wie sie die Kamera zum Erkunden der neuen Heimat nutzte.

Das hier abgebildete, bislang unbekannte Negativ ist als Modern Print ab dem 22. Oktober 2025 in der Ausstellung „Käte Steinitz. Von Hannover nach Los Angeles“ im Sprengel Museum Hannover zu sehen. Zeitgleich erscheint im Hirmer Verlag eine umfangreiche Monografie zum Leben und Werk der Künstlerin.

Pauline Behrmann
….ist wissenschaftliche Mitarbeiterin / Doktorandin Kurt Schwitters Archiv

BU: Käte Steinitz, Ohne Titel (Straßenflucht in New York mit Postal Café), 1936/1941, belichtetes Negativ, Sprengel Museum Hannover, Schenkung Steinitz Family Art Collection

 

2 Kommentare zu Die Kamera als Erkundungstool: Fotografieren in der Emigration

  1. Der 1. VW Käfer lief 1945 vom Band. In Deutschland. Ohne klugscheißen zu wollen, aber VW Käfer können das keinesfalls sein. Wie kommen sie darauf, da sie offensichtlich nicht einmal wissen, wie das Fahrzeug aussieht, respektive gesehen hat. Manchmal ist weniger einfach mehr.

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