Wie Fotogeschichte gemacht wird (2): Zwei französische Beispiele

Vor wenigen Wochen stellte Florian Merkel in diesem Blog seine Entdeckung der Art Basel 2021 vor: Michel Journiac! Er sprach davon, dass er dessen Namen und Werk zuvor nie gehört hätte – und war mit dieser Einschätzung im deutschsprachigen Raum wohl kaum allein! Und kurz nach der Baseler Neuentdeckung konnte man Journiac gleich an prominenter Stelle erneut sehen. Läuft da was?

Wer zuletzt einmal eine Reise in die einstige Hauptstadt der Fotografie – von Paris ist die Rede – unternahm, durfte erfahren, dass die französische Fotogeschichte gänzlich anders gestrickt ist als der mainstream der westlichen Fotogeschichtsschreibung oder anders formuliert: dass sich dort gerade Versuche beobachten lassen, Alternativen zum dominanten  angelsächsischen Diskurs zu etablieren. Denn in der im Mai dieses Jahres in Paris eröffneten, der gleichermaßen spektakulären wie pompösen Bourse de Commerce, die der berühmte Sammler Francois Pinault durch Tadao Ando immens aufwändig zu einem alles andere den bescheidenen Palast seiner eigenen, ca. 10.000 Werke umfassenden Sammlung umbauen ließ, begegnete der gute Michel Journiac erneut – und zwar an inhaltlich prominenter Stelle. Die viel gerühmte “Pictures Generation” gab dort den Kontext ab für eine Ausstellungspräsentation, die mit Michel Journiac und Martha Wilson einsetzte. Die Ausstellung endete aus guten Gründen direkt nach der Paris Photo, dürfte aber bei einigen Foto-Freund*innen für Aufsehen geregt haben. Denn nach diesem überraschenden Auftakt gelangt man direkt zu motivisch sehr ähnlichen Arbeiten von Sherman, der wiederum Sherrie Levine, Richard Prince und schließlich Louise Lawler folgen. (In Klammern gesagt: Übrigens nur eine Ausstellung neben 11 gleichzeitigen anderen Ausstellungen in diesem neuen Museum). Um es noch einmal zu sagen: Michel Journiac und Martha Wilson erscheinen hier so, als würden sie nicht nur zur Gruppe der etablierten US-Heroinen der Appropriation Art inhaltlich dazu gehören, sondern sie sogar historisch vorbereiten. Eine neue, legitime Sichtweise?

Aber damit nicht genug: Wer die Pfade der Messe verließ und sich in weitere Museen wagte, traf im Centre Pompidou auf die Ausstellung “Martha Wilson in Halifax 1972-1974”, welche die Bedeutung der im Keller des Hauses versteckten Sammlungspräsentation des Department de la photographie namens “The image and its Double” bei weitem in den Schatten stellt. Konnte man in Basel ein differenzierteres Bild von Journiac gewinnen, der, wie Florian Merkel ja dargestellt hat, keineswegs nur (oder überhaupt) als Vorläufer einer Sherman zu sehen ist, lieferte auch der Überblick des Pompidou über die kurze Halifax-Periode von Wilson ein besseres Bild über eine wirklich radikale feministische Künstlerin ab. Anschließend durfte man sich allenfalls über die beschränkte eigene Kenntnis wundern, welche bis dahin die Ignoranz einer künstlerisch so starken Position erlaubt hatte. Zur Entschuldigung sei gesagt, dass ihre Bio für den deutschen Kontext lediglich zwei Beteiligung bei Gruppenausstellungen aufweist.

Wieso wird sie aber auf einmal in Paris an zwei Orten gezeigt? Das Centre Pompidou Museum weist im Hinblick auf Besitzangaben auf Schenkungen der Künstlerin und die Unterstützung der Pariser Galerie mfc-michèle didier hin. Am Ende des 65 Künstler*innen umfassenden Programms dieser Galerie firmiert eben auch Martha Wilson. Verhielt es sich nicht bei Journiac ähnlich? In der Tat, denn das Werk des 1995 verstorbenen Künstlers wird ebenfalls von einer Pariser Galerie vertreten, nämlich von der Galerie Christophe Gaillard. Galerien scheinen also mit ihrem Einfluß auf Ausstellungsinstitutionen die Geschichtsschreibung der Fotografie zu beeinflußen. Sollte das verwerflich oder (im Gegenteil) nicht sogar normal sein?

Augenscheinlich wird wieder einmal, dass die viel zitierte, euphorisch begrüßte Globalisierung nicht in jeder Hinsicht zu einem internationalen Wissenstransfer geführt hat – es gibt nach wie vor kulturelle Differenzen in der Wahrnehmung und letztlich auch der Wertschätzung von individuellen künstlerischen Positionen. Das muß man keineswegs bedauern, aber sollte es reflektieren, wenn man den eigenen Garten verläßt. Die von Voltaire dem Candide in den Mund gelegte Maxime “il faut cultiver son jardin” besitzt eine ungebrochene Berechtigung – unabhängig von der Frage, WIE man die Gartenpflege betreibt. Genau danach darf und sollte man aber auch fragen. Und im Falle der Präsentationen von Journiac und Wilson würde man sich etwa Transparenz darüber wünschen, wie denn die z.T. nicht erst vergessenen, sondern gar nicht bekannten Positionen auf die Bühne gekommen sind. Die beiden Pariser Beispiele sind nicht verwerflich, aber die Institutionen sollten sich ihrer Verantwortung als allgemeine, vielleicht (!) sogar autonome (?) Bildungsforen doch bewußt sein. Geht das aber heute überhaupt noch oder ist der fromme Wunsch nach Unabhängigkeit im Zeitalter des Hyperkapitalismus nur noch eine historisch längst überholte Träumerei? – Auf jeden Fall: die Fotogeschichte ist noch nicht fertig geschrieben; sie wird immer noch gemacht. (Fortsetzung folgt)

Stefan Gronert

….ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover

BU: Martha Wilson, I make up the Image of my Perfection / I make uptake Image of My Deformity, 1974 (courtesy by the artist)