Wenn Theorie Praxis wird: Die aktuelle Diskussion der Fotografie

Vielfach stellt sich gegenwärtig die Frage, was es denn für neue zentrale Motive der Foto-Theorie gibt: Spur, „So-ist-es-gewesen“, Index etc. – all das hat Patina angesetzt und wirkt im digitalen Zeitalter eigentümlich deplatziert. Gibt es also keine Probleme mehr?

Geht es wirklich nur (!) noch um die technologische Verabschiedung der Urheberschaft im Grenzbereich zwischen Malerei und Fotografie, wie sie Markus Kramer zuletzt postuliert hat? Doch wenn alles am Computer entsteht, so zittern die Liebhaber der alten Dunkelkammer verängstigt: Hat das Medium tatsächlich seine Spezifität verloren, so dass man es unter dem gleichen Horizont diskutieren kann oder sollte wie z.B. die Malerei, die Zeichnung oder gar das grafische Design?

Tatsächlich geht es momentan in der theoretischen Diskussion der Fotografie vielleicht  weniger um Probleme des Bildes an sich, also um die geliebte (ontologische) Frage, was das fotografische Bild eigentlich ausmacht. Tatsächlich hat sich aktuell der Fokus verlagert hin zur Diskussion des praktischen Umgangs mit Bildern. Es geht hier zum einen um konservatorische und archivarische Themen – wie sie sich aktuell auch in der Debatte um das Deutsche Institut für Fotografie andeuten. Und es geht darüber hinaus auch um Fragen darum, was man wie zeigt, also um gewissermaßen ethische Fragen, die sich im Themenkreis von „exhibition copies“ und Fragen des Displays offenbaren. Beide Dimensionen sind nur schwer voneinander zu trennen und werden, wie der weniger inhaltlich als vielmehr (macht-)politisch geführte Streit um das Deutsche Fotoinstitut belegt, auch von anders motivierten Motiven durchdrungen. Vielleicht kann man die Debattenlage also dahin gehend zusammenfassen, dass im Jahre 2020 eine Bewegung von der transzendentalen Theorie der Fotografie hin zu einer Theorie des praktischen Umgangs mit Fotografie zu beobachten ist.

Diese Schlagwörter mögen so abstrakt klingen, dass sie der Erläuterung bedürfen: Worin besteht die Aktualität der Frage nach der konservatorischen Realität der Fotografie? Spricht aus ihr die wachsende Bedeutung der Stellung und Funktion von Foto-Restauratoren (für die es im deutschsprachigen Raum immer noch zu wenige Stellen in Institutionen gibt)? Ist da ein aufstrebender Berufsstand bemüht sich seiner Existenzberechtigung Geltung zu verschaffen? – Sicherlich auch, aber legitimer Weise, denn durch die Vielzahl der aktuell praktizierte fotografischen Techniken blickt kaum ein Interessierter mehr durch. Das gilt – neben den akademisch geschulten Wissenschaftlern – selbst für die Mehrzahl der Fotograf*innen. Wie aber kann man die neuen Produkte, von denen fast jeder Hersteller vollmundig behauptet, sie seien 100 Jahre, nahezu unbegrenzt oder immerhin viel länger als zuvor haltbar, tatsächlich angemessen lagern und präsentieren? Schließlich haben die Institutionen ja eine Verantwortung für zukünftige Generationen, denen doch auch noch das zugänglich gemacht werden soll, was wir heute sehen? Inwieweit dürfen Künstler (zu Lebzeiten) und, noch dringlicher, inwieweit dürfen die ausstellenden Institutionen eingreifen – ohne zu verfälschen? Genügt der Hinweis des Museums, dass das gezeigte Bild nicht das Original ist, dass also den Besucher*innen eben dieses vorenthalten wird, obwohl man es zeigen könnte (um den Preis, dass es dann nur diejenigen sehen könnten, die in einem kurzen Zeitraum zufälligerweise vor Ort sind)? Muss eigentlich alles konserviert werden genauso wie es einmal war? Müssen wir alles archivieren, müssen Nachlässe gesichert? Und wenn ja: welche?

Die alten Fragen nach der Urheberschaft und dem Original: sie sind trotz der euphorisch begrüßten digitalen Technologie doch nicht vollkommen obsolet, sondern begegnen uns hier unter veränderten Voraussetzungen erneut. Wie auch immer man die hier aufgeworfenen Fragen im Einzelfall (vermutlich nicht generalistisch!) beantworten wird: Klar sein sollte, dass das Foto keine total virtuell, von seiner Materialität losgelöste Erscheinung ist, sondern immer beides zugleich: Visualität und Ding!

 

Stefan Gronert

…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover

 

 

BU: Beschriftung im Museum Folkwang Essen, gesehen: Juli 2020