Und das ist Fotografie? (Mal wieder) – Vom Index zum Rohstoff

Bei der Preview zur Ausstellung „IMAGE CAPITAL. Estelle Blaschke & Armin Linke“ am Essener Museum Folkwang Anfang September meldete sich ein älterer Herr energisch: Das hat doch mit Fotografie nichts zu tun! Dieser Kommentar gehört zum festen Inventar zeitgenössischer Ausstellungen, wie man schon früher auf diesem Blog lesen konnte. Die Autor*innen dieser Schau zur Fotografie als Informationstechnologie erwiderten auch prompt: Doch, es hat alles damit zu tun, wenn man die Fotografie weiter begreift.

Der Einwand bezog sich auf das Titelbild der Ausstellung, ein Foto von Armin Linke eines interaktiven “Theaters” des Hochleistungsrechenzentrums der Universität Stuttgart, in dem gerade die Aerodynamik eines Audis visualisiert wird. Das digitale Modell in all seiner Schemenhaftigkeit sei ja wohl keine Fotografie, sondern ein (irgendein?) Bild—was hat es also im traditionsreichen Untergeschoss des Museum Folkwang zu suchen? Die Basler Fotohistorikerin Estelle Blaschke klärte auf: Für die Erzeugung dieses Bildes wird die Photogrammetrie herangezogen, ein Prozess mehrfachen Fotografierens aus verschiedenen Winkeln zur Messung und Visualisierung von Objekten (oder besser bekannt in der Landvermessung). Der digitale Audi speist sich also aus Fotografien, ist aber selbst keine mehr im engeren Sinn, also mit einer linearen indexikalischen Genealogie.

Diese erweiterte Betrachtung der Fotografie ist das Fundament der Ausstellung, in der es zwar auch um Bilderzeugung (“Imaging”) geht—in Industrie, Landwirtschaft und Wissenschaft—, aber die Fotografie hierfür in verschiedene Teile zerlegt wird. Sie ist einerseits ein Speicher von Informationen durch ihre mimetische Kapazität und technische Reproduzierbarkeit (“Memory”), andererseits eine Währung, in dem ihr verschiedenste (finanzielle, ästhetische, soziale) Werte eingeschrieben werden (“Currency”). Dabei ist sie aber abhängig von Beschreibungssystemen zur Wiederauffindbarkeit (“Access”). Und zur vollen Ausschöpfung ihres Informationsgehalts sind spezielle Anwendungen, heutzutage Algorithmen, vonnöten (“Mining”). Die Fotografie ist in diesem Sinne also nicht mehr das Endprodukt in Form eines Prints, sondern vor allem ein Rohstoff. Das zeigt die Ausstellung in fast jedem Exponat. Obschon einzelne fotografische Techniken der letzten 140 Jahre vorgestellt werden, kommen Fotografien doch immer in Massen vor, die in einer Fülle von Anwendungen verwaltet, verdatet und ausgewertet werden. Die gezeigten Infrastrukturen, von der Orchideenfarm zum Arctic Code Vault, scheinen dann augenscheinlich nichts mehr mit Fotografie zu tun zu haben, fußen aber in entscheidender Weise auf dieser bahnbrechenden Technologie.

Die Fotografie als Masse auf der einen Seite und ihre angehängten Systeme und Anwendungen auf der anderen Seite war auch Thema auf einer Tagung im Mai, die ich mit Marie-Luise Mayer und Nadine Isabelle Henrich in München organisierte (Mitschnitte hier). Unter dem Motto “Navigieren, Sammeln und Kuratieren fotografischer Daten” stellten Wissenschaftler*innen, Kurator*innen und Künstler*innen ihren Umgang mit unterschiedlichen Arten der Fotografie vor. Auch hier galt Fotografie als optisch-indexikalischer Prozess als gesetzt und es wurde weitergedacht, an die museale Kategorisierung fotografischer Daten, die Gestaltung von Datenbanken, das Neudenken der Interpretationshoheit und an Ausstellungsweisen, die der Menge und den mannigfaltigen Formen des Mediums und vor allem seiner Natur als Daten gerecht werden. Folglich ging es nicht um einzelne Bilder, sondern um ihre Verwertungen, Beschreibungen und Infrastrukturen, die nicht weniger fotografisch zu verstehen sind als die Bilder an sich. Es ist nämlich nicht die eine Fotografie – im Wasserbad oder Photoshop entwickelt -, sondern ihre Vernetzung in größeren technischen und gesellschaftlichen Systemen, die dieses Medium auszeichnet. Der Index wird dadurch nicht ausgehebelt, verliert aber seine Vorrangstellung in der Diskussion und zum Glück können Kurator*innen, Wissenschaftler*innen und Besucher*innen zugleich viel öfter sagen: Ja, das ist Fotografie!

Die Ausstellung “IMAGE CAPITAL” ist noch bis zum 11. Dezember in Essen und bis zum 8. Januar in Bologna zu sehen. Im Herbst 2023 folgen das Centre Pompidou und die Deutsche Börse Photography Foundation. Parallel findet das Projekt auf der Website www.image-capital.com statt.

Matthias Pfaller

…ist Fotohistoriker und aktuell Stipendiat der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung im Programm “Museumskurator:innen für Fotografie”

BU: Armin Linke, HLRS University of Stuttgart – High Performance Computing Center, Stuttgart, Germany, 2019 © Armin Linke

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