Schulfrei? Die Unübersichtlichkeit der zeitgenössischen Fotografie in Deutschland

Gerade im Zeitalter der digitalen Informationsflut werden wir zugeschüttet mit „Neuigkeiten“ und nicht immer fällt es leicht, das Relevante heraus zu filtern. Wie bei vielen anderen Phänomenen, die uns als ein besonderes Resultat der digitalen Welt erscheinen, ist dieser Eindruck einer gewissen Orientierungslosigkeit in Anbetracht der Erfahrung von Gegenwart kein wirklich neues Ereignis. Als prominentes Beispiel sei nur auf die Aufsatzsammlung hingewiesen, die unser Vorzeige-Philosoph Jürgen Habermas bereits 1985 unter dem mittlerweile viel zitierten Titel „Die neue Unübersichtlichkeit“ publizierte. Wie verhält es sich aber nun im Blick auf die zeitgenössische künstlerische Fotografie? Das Wagnis eines Überblicks trotz alledem…

Wie schön war es noch in den neunziger Jahren, als wir uns in der Selbstgewißheit neuer deutscher Souveränität und Stärke sonnen konnten, nicht wahr? Und gleichzeitig drängte auch die Fotografie mit einer zuvor nicht gekannten Vehemenz in die Museen und Ausstellungshäuser. Die Fotografie? Nein, zumindest der westdeutsche Kurator blickte stolz auf die neuen Helden am Rhein, die unter den Titel „Becher-Schüler“ oder „Düsseldorfer Fotoschule“ firmierten. Sie eroberten nicht nur die Institutionen, sondern waren auch in der x-ten Generation auf dem Kunstmarkt erfolgreich. Natürlich handelte es sich vorwiegend um Herren, wobei die ohnehin bereits ältere Kölner Fotografin Candida Höfer bedauerlicherweise allenfalls als eine Art Feigenblatt für Weiblichkeit diente. Der Höhepunkt der Anerkennung der in der Heimat natürlich neidisch beäugten Düsseldorfer realisierte sich sodann in Gestalt von Einzelausstellungen auf einer internationalen Ebene – wie denen von Andreas Gursky 2001 in New York, Chicago und Paris, einer seit 2001 durch viele europäische Städte wandernde Einzelausstellung von Thomas Ruff, Thomas Struths Retrospektiven in Dallas, Los Angeles und Chicago im Jahre 2002 und Candida Höfers Beitrag im Deutschen Pavillon auf der 50. Biennale di Venezia im Jahr 2003. Kurz danach, also in den frühen Nuller Jahren, trat dann aber auch die Erschöpfung der Euphorie um die Düsseldorfer Schule ein: Der große Lehrer unterrichtete selbst die nachfolgenden Generationen nicht mehr, die jeweiligen Ansätze der etablierten Helden offenbarten bei genauerer Betrachtung eine große Heterogenität, die das Ende dieses Markterfolges von innen heraus betrieb und nicht zuletzt der gar nicht mehr so böse Kunstmarkt verlangte gierig nach künstlerischen Neuheiten.

Eben solche lieferten die Schüler von Timm Rautert an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Bereits seit 1999 initiierte der Lehrer für seine Studierenden mehrere Gruppenausstellungen unter dem Begriff „Klasse Rautert“ – was dem Düsseldorfer Label verdächtig ähnlich klingt, aber wohl keineswegs als analoge Marketingstrategie gedacht war. Die Differenz wurde vielmehr in den Pressemitteilungen dahingehend betont, dass man eben eine Heterogenität der Spielarten des Fotografischen in den Vordergrund stellen wollte. Was die “Leipziger” einte war allenfalls ein gemeinsames Interesse an einer kritischen Umgangsform mit dem Medium. Von einer wirklichen neuen „Schule“ konnte und kann man deshalb nicht sprechen. Das zeigt auch die Namensliste, von der an dieser Stelle lediglich Viktoria Binschtok, Peggy Buth, Sven Johne, Ricarda Roggan, Adrian Sauer, Oskar Schmidt und Tobias Zielony zu nennen sind. Wie man sieht: nicht nur Männer…

Analog zu den „Düsseldorfern“ gut ein Jahrzehnt zuvor haben sich aber spätestens in der zweiten Hälfte der 10er Jahre auch die „Leipziger“ von ihrer vermeintlichen Gruppen-Identität so weit emanzipiert, dass ihre gemeinsame Ausbildungszeit nur noch als Erinnerung an eine romantische Vergangenheit gelten konnte. Was aber bleibt uns Liebhabern der jüngsten Gegenwart nun noch an Orientierung? Denn auch die nicht einzugemeindenden Stars Thomas Demand und Wolfgang Tillmans sind schon institutionell auf höchster internationaler Ebene durchgereicht. Schule adé!

Worum geht’s denn zu Beginn des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts? Natürlich um Digitales – in technischer, aber vor allem auch in inhaltlicher Hinsicht. Und dessen Macht wird natürlich reflexhaft auch von einer historistischen Besinnung auf das Analoge und die alten, fast schon vergessenen Techniken wie Fotogramm, Barytabzug, Übermalung, Unikat und kleinem Format begleitet: Nach der gelungenen Durchsetzung des Mediums im künstlerischen Diskurs qua Kollektiv (= Schule) setzte zwangsläufig der individuelle Distinktionszwang ein!

Und wen heben wir in diesem Feld der Unterschiede hervor, suggerieren also machtbewußt eine Übersichtlichkeit, die bei Nicht-Nennung automatisch diskriminierend wirkt? Ich nenne zum jetzigen Zeitpunkt einmal folgende Ansätze: die (nicht nur) medienreflexiven Positionen von Jochen Lempert und Peter Piller und – nahezu antipodisch dazu – Beate Gütschow; die ebenso konzeptuellen wie bildkritischen Ansätze von Ketuta Alexi-Meskhishvili, Natalie Czech, Jan Paul Evers, Barbara Probst sowie Katja Stuke & Oliver Sieber; die den Dokumentarismus und die Bildgeschichte gleichermaßen reflektierenden Ansätze von Annette Kelm, Heidi Specker, Laura Bielau, Peter Miller und Andrzej Steinbach; die unsere digitale Welt reflektierenden Positionen von Louisa Clement, Anna Ehrenstein, Sabrina Jung, Alwin Lay, Lilly Lulay und Sophie Thun. Auch über reaktualisierte Tendenzen des Feminismus hinaus ist allgemein – die aufgezählten Namen belegen es – eine größere Aufmerksamkeit für weibliche Positionen unverkennbar. Sollte das alte neue Medium also mittlerweile tatsächlich ein emanzipatorisches Potential eröffnen, das im vergangenen Jahrhundert noch erstaunlich unterentwickelt war?

Nicht zu vergessen sind abschließend noch jene verschiedenartigen Positionen (u.a. Alex Grein, Philipp Goldbach, Michael Reisch), welche seit 2018 die künstlerische Autonomie des fotografischen Bildes unter dem Begriff „darktaxa-projects“ postulieren. Man mag darin eine Reaktion auf die durch die digitalen Medien potenzierte „Bilderflut“ erkennen, wird aber zugleich die Verbindung zur abstrakten, ja sogar generativen Fotografie nicht übersehen können.

Und wer noch mehr sieht und kennt: umso besser! Endlich diese Übersicht…

Stefan Gronert

…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover

BU: Installationsaufnahe aus Wolfgang Tillmans Ausstellung im Museum of Modern Art, New York 2022

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