Jenseits des Abbilds: Von der Priorität der „Post-Production“

Die Betrachter*in eines Bildes muss dessen Entstehung in der Regel nicht interessieren – es sei denn, sie, die Bildentstehung, ist selbst das zentrale Thema. Doch bleiben wir beim Normalfall und führen uns die Hervorbringung eines Fotos einmal kurz schematisch vor Augen.

Im Blick auf die Kunst verhält es sich mittlerweile längst anders als uns der einprägsame Marketing-Slogan von George Eastman „You Press the Button, We Do the Rest“ suggerieren will. Im Unterschied zu diesem Service-Angebot aus dem Jahre 1888 (!) möchte sich im digitalen Zeitalter wohl Niemand mehr derart entmündigen lassen und den Prozess vielmehr durchgehend in der eigenen Hand behalten: I press the button, and I’ll do the rest!

Wie verhält es sich also heutzutage? Die Fotograf*in nimmt die Kamera, wählt so den potentiellen Bildausschnitt und drückt den Auslöser. Anschließend erst entsteht in der Entwicklung das Bild, wobei sich noch fast alles oder zumindest Entscheidendes verändern lässt. Diese weitgehende kreative Freiheit – ob sie nun genutzt oder (gemäß des religiösen Glaubens an das „Dokument“) eher ignoriert wird – existierte bereits vor dem digitalen Zeitalter. Die Legende von der „kalten Technik“ war immer schon ein Mythos, den die Verächter dem Medium vorwarfen. Tatsächlich war die „Handarbeit“ stets ein (oft unsichtbarer) Bestandteil einer Fotografie.

Eingedenk dessen darf man sich fragen, was sich durch die mittlerweile auch schon gar nicht mehr so neue digitale Technik wirklich verändert hat. Selbst in jener altertümlichen Form, die ich den „digitalen Dokumentarismus“ nennen möchte, ist dies uninteressant. Denn ob jetzt z.B. ein Stephen Shore eine analoge Mitteformatkamera oder sein Smartphone verwendet: für die innerbildliche Optik ist dies einerlei. Wen stört’s?

Als sicher darf also gelten, dass der erste Schritt, die Arbeit mit der Kamera, im digitalen Zeitalter unverändert geblieben ist. Vielen Kameras sieht man ihre technische Ausrichtung auf den ersten Blick nicht einmal an. Ob das vermeintliche Abbild der Wirklichkeit sich auf einen chemischen Grund niederschlägt oder ob es digital konserviert wird, ist zunächst einmal belanglos. Man kann sogar, sei es in der Form des Fotograms oder bei der Appropriation, auf eine Kamera verzichten.

Entscheidend ist dagegen vielmehr der zweite Schritt: die eigentliche Bild-Entstehung. Dies wird selbst der Amateurfotograf bestätigen, wenn er seine Urlaubsfotos nicht einmal mit Adobes Photoshop, sondern mit viel einfacheren technischen Mitteln („tools“, wie es pseudo-professionell heißt) bearbeitet. Ähnliches passiert im Bereich der Kunst: Aus dem Film-Jargon hat sich im digitalen Zeitalter hier – man muss sich ja unterschieden – der etwas verzerrende Begriff der „Post-Production“ eingeschlichen. Verzerrend ist dies, insofern es ja nicht wirklich um einen nachträglichen, also um ein „Post“-Zustand geht. Die Transformation des Abbildes setzt vielmehr erst jetzt ein, also nach der Aufnahme. So gesehen darf man also sagen, dass sich im künstlerischen Entstehungsprozess das Entscheidende zeitlich nach (nur in der Konzeptkunst: vor), auf alle Fälle aber jenseits des Abbilds ereignet. Ob in der romantischen Dunkelkammer oder am digitalen Bildschirm: Die Frage der Technik wird damit sekundär. Keine Angst vor der digitalen Fotografie!

Stefan Gronert

…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover

 

BU: Jörg Sasse, 7988, 2002

1 Kommentar zu Jenseits des Abbilds: Von der Priorität der „Post-Production“

  1. “… Die Frage der Technik wird damit sekundär.” “… So gesehen darf man also sagen, dass sich im künstlerischen Entstehungsprozess das Entscheidende zeitlich nach (nur in der Konzeptkunst: vor), auf alle Fälle aber jenseits des Abbilds ereignet. …” Absolut richtig.

    Bis auf ein paar Ausnahmen :-), “… – es sei denn, sie, die Bildentstehung, ist selbst das zentrale Thema. …”
    wie z.B.
    https://www.chrismccaw.com/
    https://www.clausstolz.de/
    https://wesely.org/
    und Wolfgang Tillmanns Freischwimmer Arbeiten
    hier ist die Technik Bildvorraussetzung und der Entstehungsprozess teils im Abbild selbst eingeschrieben.

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