Feier oder Abgesang? Ein neues Buch zur Fotografie im 21. Jahrhundert

Dicke Bücher sind etwas für das Bücherregal: Man kann bei Freunden oder anderen Besuchern Eindruck über die eigene Belesenheit schinden und/oder den Band ab und zu durchblättern, um aus der Vielfalt der in ihm enthaltenen Bild-Reproduktionen Inspirationen fürs eigene Denken zu erzielen. 472 Seiten mit 380 Abbildungen sollten dazu ausreichen – mit diesen Daten ist die Form eines neuen Buches skizziert, das jüngst unter dem Titel „Fotofinish. Siegeszug der Fotografie als künstlerische Gattung“ erschienen ist.

Es liefert einen Querschnitt durch eine 7.500 Werke umfassende Sammlung, die seit 1993 von der DZ Bank (namentlich Luminita Sabau und Christina Leber) in Frankfurt aufgebaut wurde und erstaunlich frisch daherkommt. Manch ein Museumskurator wird hier blass vor Neid werden und die nächste Leihanfrage klar adressieren. Von einem Querschnitt durch die Sammlung der DZ Bank darf man sprechen, weil es sich um eine Auswahl künstlerischer Positionen handelt, die anhand von Referenzbegriffen wie Film, Malerei, Skulptur, Digitales in ihrem jeweiligen Verhältnis zur Fotografie inhaltlich getroffen worden sind. Als kommentierende Autoren, die sich bisweilen auch zu grundlegenden analytischen Reflexionen aufschwingen firmieren neben der Herausgeberin Christina Leber auch Steffen Siegel, Kathrin Schönegg, Ursula Frohne, Henning Engelke und Wolfgang Ullrich – eine ähnlich vielgestaltige Auswahl der Stimmen wie die der Kunstwerke.

Eben dies zeigt sich überdeutlich, wenn man die ersten und die letzten Sätze des Bandes miteinander vergleicht. Christina Leber trägt nämlich etwas euphorisch dick auf, wenn sie sagt: „So überraschend wie der Siegeszug eines Amateursportlers in einem Profi-Wettkampf kam der Siegeszug der Fotografie für die Kunstwelt.“ – Der nüchterne Kunsthistoriker muss diese Einschätzung nicht unbedingt teilen, mag sich vielmehr über den ebenso diskontinuierlich wie zäh verlaufenden Weg der künstlerischen Emanzipation des Mediums wundern. Und der Diagnostiker der Gegenwart zweifelt ebenso, wenn Leber wenige Zeilen später diagnostiziert, die Fotografie sei die „Siegerin der Kunst des beginnenden 21. Jahrhunderts“ (14). Abgesehen von diesen wohl etwas euphemistischen Bewertungen beeindruckt aber im Folgenden die differenzierte Analyse der Herausgeberin in ihrer wegbereitenden Einführung, welche sich von den bekannt unverbindlichen Vorworten vieler Sammelbände inhaltlich erfreulich absetzt.

Lebers Euphorie vollkommen entgegengesetzt ist dann jedoch der letzte Aufsatz des Bandes, den Wolfgang Ullrich den süffisanten Titel „Sentimentale Bürokraten, beschämte Bürokraten oder: Wer betreibt konzeptuelle Fotografie?“ (406-414) verliehen hat. In Auseinandersetzung mit den Autoritäten Groys, Flusser und Anders (bei gleichzeitiger Ignoranz aller kunsthistorischen Beiträge zum Komplex der konzeptuellen Fotografie) endet sein Beitrag im Weltschmerz: „Und wenn erst einmal nicht nur Fotoapparate und Smartphones programmiert sind, sondern zugleich Programme und Apps existieren, um Bilder nach bestimmten Kriterien auszuwählen und aufeinander zu beziehen, werden Künstler, sofern es die dann überhaupt noch gibt, vielleicht auch wieder anfangen, selbst Bilder zu machen.“ (414) – Hier bleibt nur die Frage, ob es sich um eine freiwillige oder aus (technischer wie künstlerischer) Unkenntnis gewählte Slapstick-Einlage handelt, welche die von Beat Wyss so schön apostrophierte „Trauer der Vollendung“ repetiert und zu dem vitalen Geist dieses Jubiläumsbuch der DZ Bank gar nicht passen will.

Wie auch immer: Die Anschaffung des Bandes lohnt auf jeden Fall, so dass in Ikeas „Billy“ 4,3 cm frei geräumt werden sollten. Nach der ersten Lektüre muss dieser „Siegeszug“ auch nicht unbedingt viel Staub auf sich ziehen, sondern wird im besten Sinne eines temporären Überblicks zum wiederholten Blättern anregen. Was will man mehr?

Christina Leber (Hrsg.), Fotofinish. Siegeszug der Fotografie als künstlerische Gattung, Köln: Snoeck 2018

 

BU: Jan Paul Evers, Ehepaar mit Hund, 2012