Eine Entdeckung auf der Art Basel 2021: Michel Journiac

Seitdem der Markt für Fotografie längst nicht mehr so boomt wie noch in den neunziger Jahren, wird man auf der größten Kunstmesse der Welt, der Art Basel, auch nicht mehr mit so vielen fotografischen Positionen konfrontiert. Florian Merkel hat trotzdem auch in diesem Jahr eine bemerkenswerte Entdeckung gemacht. (Anm. der Redaktion)

Im Teil der Art Basel bald hinter dem Eingang, in dem man von den vielen Schieles, Dubuffets und Magrittes ganz benommen wird, befand sich der Stand der Galerie Christophe Gaillard aus Paris, die den Künstler Michel Journiac präsentiert, der mir bis dahin unbekannt war. Ich möchte gar nicht so sehr nach den biografischen Einzelheiten forschen, lieber den spontanen Eindruck wiedergeben.

Michel Journiac ist schon 1995 gestorben, wir sahen Arbeiten meist aus den frühen 70er Jahren, weiß glänzende Plastiken, bei denen offensichtlich seine Maske Verwendung fand und vor allem Schwarzweißfotografien in Tableaus, auf denen der Künstler, ein Mann von vielleicht Anfang 30, in verschiedenen Rollenspielen zu sehen ist.

„Travestie“ ist das Thema, das sich durch die Arbeiten zieht und in vielen Bildtiteln benannt wird, wobei dieser Begriff in komplexer, doppelbödiger Weise behandelt wird. Den grandiosen Auftakt der Schau bildete die „Hommage à Freud“, eine Art Fahndungsplakat, auf denen die Eltern des Künstlers jeweils als Travestie ihrer selbst und in der Travestie durch den Sohn dargestellt sind: Die Rolle ist Voraussetzung für gesellschaftliche Existenz – Individualität wird durch die eingenommene Funktion aufgehoben oder zumindest in Frage gestellt. Das funktioniert nicht nur als gedankliches Postulat, sondern als bildhafte Umsetzung, die die Idee illustriert, um gleichzeitig ihre eigene Aussage süffisant zu konterkarieren, ohne das existentielle Anliegen zu verraten.

In zwei weiteren Bildtableaus stellt Michel Journiac Sortierungen weiblicher Verhaltensmuster gegenüber, einmal als Projektion idealer Normative, dann in realer gesellschaftlicher Praxis. Die Hauptrolle dieser Fotoinszenierungen in klassischer Rollei Reportage-Ästhetik spielt erkennbar der Künstler selbst, der darin einer inneren Notwendigkeit zu folgen scheint und viel weniger von sich selbst distanziert ist, als man es bei den etwas später entstandenen Medienreflexionen von Cindy Sherman oder den konstruierten Eigendarstellungen von Jürgen Klauke beobachten kann. Eher sehe ich Paralllelen zur Unmittelbarkeit in Boris Mikhailovs wilden Krim-Inszenierungen.

Eine weitere Bildgruppe zeigte Michel Journiac nackt und bekleidet in männlicher und weiblicher Zuweisung. Das vexierhafte Spiel mit Geschlechterrollen, Travestie und Identifikationen lässt dabei Interpretationsspielräume offen und überlässt es dem Publikum, seine Schlüsse zu ziehen. Aktuelle Thematisierungen dieses Komplexes sind eindeutiger.

Dass im Werk des Künstlers oder der Künstlerin wohl noch mehr zu entdecken ist, zeigte die lebensgroße weiße Skulptur eines erregten hermaphroditischen Gespenstes mit Heiligenschein, das die ganze Situation aus der Ecke heraus zu überwachen schien und eine noch etwas abgründigere Weltsicht ahnen lässt.

Florian Merkel

…ist Fotograf, Musiker, Autor aus Berlin

BU: Michel Journiac, Hommage à Freud – Constat critique d’une mythologie travestie, 1972, © Galerie Christophe Gaillard, Paris

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

22 − = 16