Ein visuelles Futur II: Zur zeitlichen Materie des fotografischen Bildes

Der aktuelle Wert einer realen wie auch noch kommenden Fotografie liegt in einer zukünftigen Zeit. Genauer gesagt: in einem zeiträumlichen Zusammenhang, in der diese, aus einer Zukunft kommend, die Gegenwart eines Publikums zu einer veränderten Zeit werden lässt.

Die zeitliche Materie der Fotografie liege, so bekanntlich Roland Barthes in seiner “Hellen Kammer”, in ihrem punctum: in einer buchstäblich die Gegenwart treffenden Zukunft, die nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zusammenhang erinnerbar ist, aber als zeitlich verschiebbarer Index noch veränderbar sein wird.

Seit der Erfindung der Fotografie hat sich weniger die Malerei, die Kunst und allgemein die Kommunikation mit Bildern als vielmehr die Zeit und deren spezifische Erfahrung verändert – diese wurde zu einer nicht-funktionalen Bezugsgröße, zu einer Art von visuellem Futur II, das in eine zeitlogisch versetzten Kontext angesiedelt ist: An dem Ort einer dort, im Bild gewesenen Vergangenheit, die für den Betrachter unwiederbringlich verloren erscheint – doch dafür umso mehr von uns, dem Publikum, eine Erfahrung von neuartig Zeitlichem einfordert.

Längst gibt es nicht mehr eine Theorie der Fotografie. Wohl aber jeweils besondere, individualisierte Zugänge zu einzelnen Bildern – genauer: eine Praxis zeitlich bewusst gemachter Veränderungen, in der ein Bild, unser Bild von Fotografie neu skaliert, genauer: einer jeweiligen Gegenwart zu- und hochgerechnet wird. Jedes Foto, unabhängig ob man es einer Kunst oder Nichtkunst, einer Wissenschaft oder einem Entertainment, einem Leben oder einer Erinnerung, zurechnet, hat einen autobiographischen Index, durch den ebenso eine Nähe zu einem benennbaren Detail wie auch eine Distanz, ein Bild des Ganzen in seinem zeitlich erweiterten Zusammenhang formulierbar wird.

Ein Foto ist immer doppelt grenzwertig: ein Bild und eine Gegenwart, eine Nähe und eine Zukunft, ein Kontext und eine Zeitlosigkeit. Gerade damit wird hier und jetzt ein weiteres Potential der Fotografie als Medium einer Distanz deutlich: Die unheimliche, opake Distanz, die fotografische Bilder von Beginn an ausstrahlten und ausstrahlen, kann sprachlich kaum angemessen eingeholt, wohl aber zeitlich vorausschauend gedacht werden. So gesehen könnte man heute von einem Akt des photographic distancing sprechen.

 Michael Kröger

… ist freier Kurator und Autor

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