Chronomade. Vom Fotografieren und dem Beobachten seiner Effekte

„Die angedeuteten Konturen an einer Höhlenwand, der erste Spiegel, die Entwicklung der Portraitmalerei, die Wissenschaft der Fotografie – das waren Fortschritte, die uns erlaubten, uns selbst besser mit zunehmender Wahrhaftigkeit zu verstehen.“ (Julian Barnes, Lebensstufen, Köln 2015, S. 36)  

Der Sammler als Fotograf das Publikum als beobachtende Betrachter*innen

Das historische System der Fotografie ist heute eine aktuelle Institution, ein Publikum  zur Beobachtung von Beobachtungen zweiter Ordnung. Fotografieren ist eine soziale Reproduktionspraxis, die ihre Nutzer*innen – Autor*innen wie Rezipient*innen – zum kollektiven Wahrnehmen in Serien einlädt, aber nicht unbedingt zum Sammeln von exklusiven Sammlerstücken. Jede Fotograf*in sammelt eine Welt in Bildern und mit diesen Bildern mögliche, womöglich ungesehene Welten. Ein später hinzukommendes Publikum bzw. einzelne spätere Betrachter*innen beobachten, dass sich in einzelnen ausgewählten Fotografien immer noch mehr und anderes zeigen und erkennen lässt, als man ursprünglich einmal geplant und als Fotografie und im Bild gesammelt hatte.

Für passionierte Foto-Kundige oder -Betrachter*innen gilt, was Walter Benjamin allgemein für den Typus des Sammlers festgehalten, der, so zitiert Benjamin Balzac, „zu den leidenschaftlichsten Menschen, die es auf der Welt gibt“ zählt: „Der Sammler hat in seiner Leidenschaft eine Wünschelrute, die ihn zum Finder macht. … Die großen Sammler sind durch die Originalität ihrer Objektwahl geleistet worden. …In der Regel sind aber die Sammler vom Objekt selbst geleistet worden“, schreibt Benjamin in seinem 1937 veröffentlichten Essay über „Eduard Fuchs. Der Sammler und Historiker“.

 

Emphase und Chronomade

Leistungen existieren in unserer medialen Bildwelt besonders dann, wenn sie etwas sichtbar machen und umgekehrt wir durch sie sichtbar werden. Das gilt auch für Leistungen des Mediums Fotografie. Während des Fotografierens reicht es aus, einen einzigen Moment aus einem Raum und in einer Zeit auszuwählen und gleichzeitig in ein Bild und damit in eine Form von Aufmerksam-Werden zu verwandeln. Intensiver  als die handwerklich produzierende Malerei ist das technische Medium Fotografie in der Lage, ihre RezipientInnen zu eigenständigem vergleichendem Erkennen zu animieren. So wie der Fotografie einen Ausschnitt aus einem sozialen Raum und einer sozialen Zeit wählt, so verwandelt er einen technisch erzeugten Blick in die Wirklichkeit seiner subjektiven Empathie – man erinnere sich an Benjamins eigenartig allegorischen Beginn seiner „Kleinen Geschichte der Photographie“ – jenen  „Nebel, der über den Anfängen der Photographie liegt“. Die Fotografie erzeugt parallel und zusätzlich zu dieser Emphase ein verzeitlichtes Gegenteil: ein Chronomade, ein aus der Zeit und in einer Gegenwart erzeugtes Artefakt, in dem eine Zeit und ein Bild ineinander verschränkt worden sind. 

Es reicht heute nicht mehr aus sich dazu zu bekennen, dass man etwas nicht kann. Ein Imperativ unserer Gegenwart klingt paradox bringt jedoch einen Zustand unserer leistungsorientierten  Gesellschaft auf den Punkt: Man kann nicht nichts können. Wer heute lebt, muss zeigen können, was man besonders gut kann – zum Beispiel fotografieren oder Fotografien betrachten. Doch auch hier gilt: Man muss bestehende historische Muster verändern können und sich von anderen unbekannten Mustern inspirieren und verändern lassen können. Muster sind Ordnungen in der Zeit – also alles andere als unveränderbar.

Was aber bleibt, wenn sich gefühlt gerade alles – unter anderem auch die Bilder unserer Zeit, die Zeichen unserer Orientierung, die Bestände unserer Identität usw. – verändert? Diese Frage ist am besten zu beantworten indem man sich zu dieser in ein neues Verhältnis setzt. Man verändert Zukunft indem man die alten Bilder von Gewohnheiten, Überlieferungen und anderen Formaten von Vergangenheit in neue und angemessenere Gegenwarten übersetzt und verwandelt und dabei notiert was sich jetzt verändert oder längst verändert hat – und was tendenziell unverändert (an-)dauern wird.

 

Ursprung versus Kontext  

Ein Foto wahrnehmen heißt,  das jeweils eigene Wahrnehmen und Denken formal miteinander zu kombinieren: den ursprünglichen Kontext, in dem dieses einst aufgenommen wurde, nicht mehr zu kennen den Kontext jedoch, den man jetzt als Fotografie herstellt, zu realisieren, ohne das genaue Rezeptionsproblem zu kennen, das in ihm verborgen liegt. Ein Problem der Fotografie liegt im Moment der bewusst getroffenen Auswahl einer Fotografie – was man als Fotografie auswählt, macht explizit, was man als Bild unbeschriftet erfährt, um es dann mit einem Kommentar zu versehen.

Ein besonderes, jetzt ausgewähltes Foto zeigt – unabhängig von welchen spezifischen Kontexten – zunächst alles unbestimmt und verändert dann, jetzt, unseren gewohnten Blick. Aus einem bildlich fixierten Moment ist ein nicht-fixiertes Ereignis geworden. Ereignisse sind erzählbar jedoch nicht als Ganzes darstellbar. Was eben also noch Geschichte war, ist jetzt Konstruktion einer Erzählung geworden. Erzählungen sind, vereinfacht gesagt, Momente einer Auswahl von Begebenheiten. Jetzt war endlich möglich geworden, was noch einmal verändert werden könnte. Die Frage der nächsten Gegenwart bleibt: welches Foto wird mich – zukünftig – verändern können?  

 Michael Kröger 

… ist freier Kurator und Autor

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