Sichtbar machen, in vielen Fällen auch das Übersehene – das ist ein geläufiges Credo der Kunst. Der Untertitel von Carrie Mae Weems Ausstellung „The Evidence of Things Not Seen“ deutet jedoch auf noch etwas mehr hin, handelt es sich doch um ein Zitat eines Buches des amerikanischen Schriftstellers James Baldwin. Unter dem Eindruck einer Mordserie in Atlanta publizierte dieser das Buch im Jahre 1985 und enthüllte dabei rassistische Hintergründe des gesamten Komplexes.
Damit ist ein inhaltliches Interesse des gesamten fotografischen Ansatzes von Weems ebenso poetisch wie unmissverständlich vorgezeichnet. Die 1953 in Portland geborene Fotografin ist heute zweifellos eine der prominentesten Vertreterin afroamerikanischer Kunst. Der Verweis darauf, dass sie 2014 die erste afroamerikanische Künstlerin war, der das Guggenheim eine Einzelausstellung gewidmet hat, darf in diesem Zusammenhang wohl niemals fehlen – allein schon um einem leicht arroganten Ton der moralisch überlegenen Empörung Ausdruck zu verleihen, dass dies erst so spät geschah. Hierzulande sollte man freilich zurückhaltend mit solchen Urteilen sein, denn die Ausstellung des Württembergischen Kunstvereins, die dort noch bis zum 10. Juli zu sehen ist, bedeutet zugleich auch die erste Retrospektive in einer deutschen Institution. Und auch darüber hinaus war Weems in Deutschland nahezu nicht zu sehen, obgleich einzelne Bilder in den Sammlungen des Kölner Museum Ludwig und des Sprengel Museum Hannover vorhanden und jüngst in drei Gruppenausstellungen in Dresden und Hannover zu sehen waren. Das aber war’s auch von „offizieller“ Seite. Erfreulicherweise wird Weems seit einiger Zeit von der Berliner Galerie Barbara Thumm vertreten. Doch summa summarum bleibt es dabei: Wer ihr Werk kennt, zählt in Deutschland zu den handverlesenen Expert*innen.
(In Klammern gesagt: Lorna Simpson, der einzig Okwui Enwezor 2013 im Münchener Haus der Kunst eine große Ausstellung widmete und der in Deutschland noch unbekanntere Dawoud Bey teilen als afroamerikanische Fotograf*innen mit Weems ein ähnliches Schicksal der bislang noch nicht gelungenen Rezeption.)
Aber genug des koketten Selbstmitleids: Was bekommt man in Stuttgart eigentlich zu sehen? Der Pressetext des Kunstvereins beschreibt es inhaltlich recht präzise wenn es heißt: „Im Vordergrund der Ausstellung steht die lange Geschichte der Gewalt gegen People of Color, Frauen und sozial Benachteiligte, der Weems eine ebenso lange Geschichte des Widerstands entgegensetzt.“ Außerdem beschäftige sie „sich in ihren Werken mit der Befragung und Aneignung dominanter historischer Erzählungen, wie sie von (Bildungs-) Institutionen, Wissenschaft, Kunst, Architektur, Denkmälern, Fotografie und anderen Massenmedien erzeugt und reproduziert werden. Durch das Aufsuchen und Nachstellen dieser Erzählungen legt sie die darin ungehörten und ungesehenen Geschichten marginalisierter Gruppen frei. Weems, die in vielen ihrer Werke selbst auftritt, führt uns höchstpersönlich an diese blinden Flecken heran und lädt uns ein, sie mit ihr gemeinsam zu erkunden.“
Ihr Werk scheint also für aller Fans einer moralisch grundierten „political correctness“ überaus attraktiv. Doch beileibe nicht für diese. Denn bei Weems sind es keineswegs plakative politische Inhalte, die sich der Kunst als Artikulationsfläche für eine sozial privilegierte, selbstzufriedene bubble anbieten. Dagegen sprechen allein schon zwei Beobachtungen: Zum einen ist der Tonfall ihrer Werke selbst nie wirklich der eines aktivistisch anklagenden Protests und darüber hinaus (oder besser: zugleich) wird er stets in einem klar ästhetischen Modus vorgetragen. Letzterer überzeugt mal mehr, ab und zu auch einmal weniger – vor allem dann, wenn sich die Architektur- vor die Personendarstellung schiebt. Bei alledem verblüffend ist die Breite und Vielfalt von Weems Bild-Sprache, die eben nicht allein auf das flächige Rechteck des fotografischen Bildes beschränkt ist.
Und an genau dieser Stelle entfaltet die Stuttgarter Ausstellung ihre wahre Stärke: Die Ausstellungsarchitektur ist mehr als nur eine geschickt konstruierte Resonanzfläche, sondern lässt die Intensität der mal großen mal kleineren Formate und verschiedenen medialen Formen umso stärker erfahrbar werden. Das verdankt sich der exzellenten kuratorischen Arbeit von Ines Dressler und Hans Christ im Dialog mit der Künstlerin. Allein deshalb ist die Reise nach Stuttgart für Foto-Fans ein Muss!
Als deutsche Foto-Kurator*in darf man sich selbstkritisch fragen, wie man die Aufgabe einer solchen Ausstellung einem Kunstverein überlassen konnte. Junge Kunst ist das nämlich – wie angedeutet – keineswegs, allenfalls eine solche, die momentan sehr aktuell erscheint. Dass die deutschsprachige akademische Forschung kein besseres Bild abgibt, macht die Sache nicht besser. Und irgendwie passt es dann auch ins Bild, dass die tolle Stuttgarter Ausstellung ihre Besucher*innen ohne Publikation auf den Heimweg schickt. Diese ist erst für den Herbst angekündigt, so dass man sich bis dahin mit dem monografischen Sammelband aus der Reihe der „October Files“ vom letzten Sommer begnügen muss. Es gibt noch einiges zu tun.
Stefan Gronert
…ist Kurator für Fotografie im Sprengel Museum Hannover
BU: Foto Verfasser