Aus einer Sommerparty wurde ein Kunstwerk: Nicholas Nixons Retrospektive „Life Work“ bei C/O Berlin

Mit immer demselben Motiv etwas Neues schaffen, das ist Nicholas Nixon mit seinen Schwesternporträts gelungen. Das erste Bild entstand auf einer Familienfeier im Sommer 1974. Dort fotografierte Nixon seine damalige Freundin Bebe mit ihren drei Schwestern als Erinnerung an die Zusammenkunft. Doch dabei blieb es nicht. Das Gruppenporträt war nur der Ausgangspunkt der seit 40 Jahren fortlaufenden und bis heute nicht abgeschlossenen Foto-Serie „The Brown Sisters“, für die Nixon die Frauen jedes Jahr wieder in derselben Konstellation abgelichtet hat. Heute zählt das geschwisterliche Freundschaftsbild in Serie zum Hauptwerk seiner fotografischen Karriere.

Die von C/O Berlin gezeigte Ausstellung „Life Work“ des über siebzig Jahre alten US-Amerikaners Nicholas Nixon zeigt vom 29.9. bis 2.12.2018 nicht nur „The Brown Sisters“ als Höhepunkt seines Werks, sondern ist als eine umfassende Retrospektive konzipiert. Sie ist chronologisch und nach Serien angeordnet. Neben der Familienstudie werden auch Stadtansichten, Selbstporträts und Stillleben präsentiert. So reicht die Schau quer durch sämtliche Schaffensperioden, und führt von der anonymen Öffentlichkeit der Großstadt mit den distanzierten Ansichten New Yorks und Bostons aus den 1970er Jahren, die in der Ausstellung „New Topographics“ zu sehen waren, über die Lebensräume von Bewohnern der Armenviertel der Südstaaten, die Nixon auf der Schwelle ihrer Veranden fotografierte, bis hin zu der Serie „The Brown Sisters“ und den sehr zärtlichen und rücksichtsvollen seriellen Werken „Old People and Patients“ und „People with Aids“, die Menschen in den verletzlichsten Situationen ihres Lebens zeigen. Die Auseinandersetzung mit Leben und Tod ist hier besonders präsent. Erst in den letzten Räumen löst sich diese Spannung mit den Aufnahmen der neugeborenen Tochter Clementine in den Armen seiner Ehefrau Bebe und lässt den Betrachter abschließend in die privaten Momente Nixons Familienlebens eintauchen. Hier nähert sich sein Werk dem menschlichen Körper soweit, dass in Detailaufnahmen sogar die Poren der Haut und die Struktur der Haare zum Thema der Bilder werden.

Die vierzig Schwesternbilder füllen den prominentesten Raum der Ausstellung und hängen chronologisch aneinandergereiht, sodass die Hängung einen narrativen Rundgang ermöglicht. Auf den Porträts blicken die Schwestern unmittelbar in die Kamera, vermitteln dem Betrachter den Eindruck von Intimität und Nähe. Die Serie ist eine der bekanntesten fotografischen Reflexionen über Zeit und Vergänglichkeit. Das Schreiten der Zeit wird durch den Rundgang erfahrbar gemacht. Nixon changiert zwischen Nahaufnahmen und Ganzkörperporträts und dokumentiert dabei die Veränderung von Kleidungsstil und Frisur. Ort und Jahreszeiten wechseln von Jahr zu Jahr. Dabei fällt auf, dass die aktuellsten Porträts, also diejenigen, die das Altern der Frauen besonders demonstrieren sollen, stark durch fotografische Mittel wie Licht-und Schatteneinfall inszeniert sind. Das Altern der Haut und die Faltenbildung wird hier theatralisch herausmodelliert und lässt das Thema des Alterns auf den späteren Porträts besonders gewollt wirken. Die Fokussierung dieser Porträts liegt deutlich auf der thematischen Akzentuierung der verrinnenden Zeit und lässt die Persönlichkeiten der Frauen in den Hintergrund treten. Einige der Porträts fallen durch besondere Details ins Auge: So hat sich Nixon auf dem Porträt aus dem Jahr 1984 mit dem Schatten seines Körpers verewigt. Auf einer anderen Aufnahme, 2011, gehen die Blicke der Schwestern in verschiedene Richtungen und auf dem 2010 entstandenen Porträt sind die Augen einer der Schwestern geschlossen. Durch diese Details entsteht der Eindruck eines Schnappschusses, einer zufälligen, weniger gestellten Aufnahme. Nixon versucht – wie er selbst erklärt – in der Fotografie immer den besonderen Augenblick einzufangen.

„The Brown Sisters“ ist gleichermaßen eine Studie des Wandels und ein Zeugnis der Kontinuität. Sie zeigt, wie sich Menschen im Leben verändern, aber auch, dass die Beziehungen unter den Schwestern nicht abgebrochen sind. So verdichtet sich die Serie zur Bildgeschichte des Lebens vier amerikanischer Schwestern im 20. Jahrhundert. Es scheint als ließen sich die Zukunftserwartungen der Frauen und die Veränderungen des Lebens erahnen. Nixon gelingt es, den Betrachter an der Familiengeschichte teilhaben zu lassen, ohne die Protagonisten zu kennen. Die Schwesternporträts zeigen, dass die Möglichkeiten der Fotografie, weit über das bloße Abbilden hinausgehen.

Das Interesse an der narrativen Fotografie wird vor allem in den Serien, die den Menschen und die zwischenmenschlichen Beziehungen thematisieren deutlich. Nixons Werk befasst sich mit dem Spannungsfeld zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Gefühle wie Liebe, Leidenschaft, Glück, Leid und Einsamkeit sind die zentralen Themen dieser Werke. Durch alltägliche Momentaufnahmen wie Berührungen und Küsse in der Serie „Couples“ gelingt es Nixon, den Betrachter diese psychischen Vorgänge nachempfinden zu lassen. Um Unmittelbarkeit und Nähe zu seinen Modellen herzustellen, arbeitet der Fotograf in einer einfachen, traditionellen Technik mit der Großformatkamera.

Die Ausstellung mit Werken von 1974 bis 2017 ist die bis heute umfangreichste Retrospektive zu Nicholas Nixons Werk. Die Serien bilden von Raum zu Raum einen roten Faden durch sein gesamtes Werk. Die Ausstellung kommt ohne multimediale Technik aus und beschränkt sich auf Wandtexte zu jedem Raum, in denen Kontext und Inhalt der Serien besprochen werden. Insgesamt wirken die in dunkelgrau gestrichenen Wände der Ausstellungräume zu dunkel und sind besonders bei kleinformatigen Fotografien unvorteilhaft.

 

Stella Theresa Jaeger

…ist Volontärin am Sprengel Museum Hannover