Ist die Fotografie wirklich ein „Heißes Medium“ im Sinne McLuhans?

Marshall McLuhan unterscheidet zwischen „heißen“ und „kalten Medien“. Heiße Medien erweitern nur einen Sinn des Menschen. Sie sind sehr detailreich und bieten eine große Menge an Informationen. Die benötigte Aufmerksamkeitsspanne ist dementsprechend gering. Zu den heißen Medien zählt McLuhan beispielsweise die Fotografie, Kinofilme und den Hörfunk. Kalte Medien dagegen sind detailarm und benötigen daher eine hohe Aufmerksamkeit. Ihr Inhalt muss vom Rezipienten im Geiste ergänzt werden, um sie zu verstehen. Die Karikatur ist beispielsweise ein kaltes Medium. Der Rezipient muss ein gewisses Hintergrundwissen haben auf das die Karikatur abzielt, um sie zu verstehen.

Dass die Fotografie nur einen Sinn erweitert ist erst einmal plausibel. Aber die Fotografie bzw. der Fotoapparat ist keine Brille, keine Lupe. Foto-Objektive können sicherlich die Funktion einer Lupe (Makro) oder eines Fernglases (Tele) haben und erweitern somit im Sinne McLuhan`s unser Sinnesorgan (die Augen), um weitere Sehmöglichkeiten. Aber der Fotoapparat besteht nicht nur aus dem Objektiv. Seine eigentliche Aufgabe ist es etwas festzuschreiben (mit Licht), das jetzt ist und gleich wieder vergangen sein wird, also Vergangenheit. Im Prinzip ist es ein Apparat, der Erinnerungen visuell festhalten kann. Die Erinnerung ist zwar kein Sinnesorgan, aber was wäre der Mensch, die Evolution ohne die Möglichkeit zur Erinnerung?  Wie jede Fotografie kann diese Erinnerung detailliert oder abstrakt sein. McLuhan definiert das „heiße Medium“ als detailreich und es soll eine große Menge an Informationen anbieten. Fotografien können sehr informativ und detailreich sein, aber auch das genaue Gegenteil. McLuhan lässt hier die Diversität der Fotografie in verschiedenen Ausdrucksformen außer Acht. Für ihn scheint eine Fotografie immer „genau“ zu sein. Seine Schlussfolgerung lautet, das wir auf Grund der vorgegebenen Detailvielfalt, keine hohe Aufmerksamkeit brauchen, um eine Fotografie „lesen“ zu können; sie zu konsumieren geht relativ schnell.

Dies ist, denke ich, ein Irrtum. Jedes Kunstwerk und somit auch jede Fotografie, will man sie ernsthaft entschlüsseln bzw. betrachten, braucht Zeit und Wissen, um dies zu tun. Sowohl die Ikonografie als auch die Ikonologie sind zeitaufwendige Verfahren, die man auf jede Fotografie anwenden kann, will man sie dekodieren. Die Aufmerksamkeitsspanne ist dementsprechend hoch, nicht gering wie McLuhan annimmt. Merkmal eines „kalten Mediums“ ist zum Beispiel für McLuhn, dass der Inhalt diese erst vom Rezipienten im Geiste ergänz werden muss, um es zu verstehen. Er führt hier beispielhaft die Karikatur an. Aber müssen wir nicht auch Fotografien im Geiste ergänzen, um sie zu verstehen? Oft sind gerade der Titel der Fotografie oder auch nur seine Aufnahmedaten (Ort / Zeit) wichtige Identifikationen, um die Fotografie in einen Kontext zu setzen, um sie zu begreifen. Diese geistige Leistung ist eine andere als bei der Karikatur aber sie muss erbracht werden. Das „gewisse Hintergrundwissen“ ist bei beiden Medien enorm wichtig.

Auch abstrakte Fotografien lösen in uns häufig Assoziation-Ketten aus. Diese Denkprozesse sind eine Folge von Verknüpfungen. Diese Verknüpfungsarbeit erfordert ebenfalls eine hohe Aufmerksamkeitsspanne, die eher für die Fotografie als „kaltes Medium“ spricht. Um Widersprüchen aus dem Weg zu gehen, bedient sich McLuhan aber eines Tricks, denn er sieht die Möglichkeit, die Medien ineinander zu verschachtelt. So können aus kalten Medien heiße werden und umgekehrt. Das Medium Fotoapparat erzeugt das Medium Fotografie, das wiederum eine Karikatur darstellen kann. Das Foto per se wäre heiß, aber zeigt dieses Foto eine Karikatur, wird es deswegen „kalt“? Das sich aus Medien neue Medien ergeben können, macht die Definition nicht einfacher, eher komplexer. Grundsätzlich ist aber McLuhans Theorie gerade für die Fotografie sehr interessant. Denn seine Aussage: „Wir formen unsere Werkzeuge, und dann formen die Werkzeuge uns“, lässt sich am Medium Fotografie sehr gut nachzeichnen. Auch wenn heute keine Kamera da zu sein scheint, „posen“ wir dennoch unbewusst, gerade weil wir wissen, dass wir in jedem öffentlichem Raum heute „aufgezeichnet“ werden können. Wir erinnern uns daran, wie man auf Fotos wirkt, wenn man diese oder jene Geste einnimmt, wir üben diese ja auch bei jedem Selfie, das wir von uns machen. Ist nicht der Bürgersteig heute für viele zum Laufsteg geworden? Ein Laufsteg ist eine Präsentationsfläche, die zum Fotografieren einlädt. Die „Selfie-Manier“ zeigt uns wie sehr das Medium der Fotografie unser Verhalten verändert hat. Aber nicht nur unsere Gesten werden fotografisch, sondern auch unsere Sehgewohnheiten. Der Apparat zeigt uns immer nur einen „Ausschnitt“ der Welt, diese Konzentration auf eine kleine Fläche ist „neu“. Die kleine Fläche unseres Smartphones ist Spiegel und Apparat zugleich, sie zeigt uns die Welt im Small-Format. Die ausgeschnittene Fläche, die in Größe variieren kann, hat in  ihrer Zwei- Dimensionalität, unsere volle Aufmerksamkeit. An fremden Orten suchen wir nach einem Blick-Ausschnitt, der ein tolles Foto erzeugen kann. Wir suchen nach einem Ansichts-Ausschnitt, in dem wir uns oder andere gut präsentieren können. Dies ist eine ganz fotografische Herangehensweise, die von Jedermann übernommen wurde. Die Kamera ist nun im Kopf, sie fotografiert oder filmt heute immer mit. McLuhan`s Annahmen bestätigen sich, vielleicht hat die Kamera uns sogar mehr geformt als wir sie. Das Werkzeug, welches unseren Sinn erweitert, verengt nun unseren Blick, so könnte eine provokante These lauten.

Helge H. Paulsen

…ist frei schaffender Kunstsoziologe und Fotograf

BU: Helge H. Paulsen

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