Das akademische Fach der Kunstgeschichte hat sich lange Zeit sehr schwer damit getan, die Fotografie als eine künstlerische Form zu beschreiben. Eine, wenn nicht gar die zentrale Figur für einen Umdenken in diese Richtung war Wolfgang Kemp, der 1980 den ersten Band der mittlerweile auf fünf Teile angewachsene Sammlung der „Theorie der Fotografie“ herausgegeben hat.
Unter dem Eindruck einer universitären Studienreform, die zu einem breiteren (aber keineswegs immer tieferen) Wissens-Fundus führen sollte, publizierte er 2011 eine „Geschichte der Fotografie. Von Daguerre bis Gursky“, die mit einem Kapitel zur neuen Fotografie endet. Ungewollt ist dieses Ende einer chronologischen Erzählung bereits selbst Ausdruck eines rasanten historischen Wandels des Mediums und seiner Rezeption, denn die Überschrift „Nach dem Ende der analogen Fotografie“ artikuliert einen Fragehorizont, der 14 Jahre später fast schon wieder antiquiert erscheint. Das zeigt zweifellos, dass die Theorie der Fotografie von der Geschichte des Mediums nicht zu trennen, also selbst historisch ist. Aber ist die Frage nach dem „Ende“ wirklich obsolet?
Uns mag die spätestens in den neunziger Jahren einsetzende „digitale Revolution“ in der Fotografie heute schon selbstverständlich sein. Der ontolgische Impetus ein vermeintliches „Wesen“ des Mediums bedroht zu sehen, begleitet die Fotografie aber nach wie vor – und feiert in der aufgeregten Debatte über künstliche Intelligenz eine freudige Wiederkehr.
Kemp appelliert vor diesem Hintergrund an unsere Gelassenheit und behauptet schlicht: „Die Konversion auf digitale Daten bedeutet zunächst einmal eine neue Herstellungsweise, aber kein neues Ergebnis.“ Die viel beschworene „Wahrheits“-Frage des Mediums beschwichtigt er mit dem Hinweis darauf, dass es „Täuschungen“ immer schon gegeben habe. Und wenn es dann noch eine so genannte „Post-Fotografie“ gebe, die sich nicht einmal mehr einer Kamera bediene, würde das dabei entstandene Produkt immer noch durch den überlieferten „Rezeptionsrahmen“ des Mediums stabilisiert.
Dieser rezeptionsästhetischen Lesart digitaler Bilder wird man kaum widersprechen können – selbst wenn manche orthodoxen Produzent*innen das heute immer noch gerne tun. Die von Kemp gezielt beiseite gerückte Frage nach einem „Ende“ ist, so darf man fortfahren, ein einfach eine falsch gestellte Frage einer Theorie, die ihre eigene Geschichtlichkeit negiert, insofern sie eine Ontologie ihres Gegenstandes postuliert – und genau diese Frage-Bewegung ist obsolet, nicht das Fragen selbst. Warum sollte, wenn die Frage nach dem „Mensch-Sein“, „sozialem Zusammenleben“, „Natur“ etc. sich schon immer verändert hat bzw. zu anderen Ergebnissen gekommen ist, gerade eine technische Bild-Form in ihrer Erscheinungsweise stabil bleiben? Immerhin wird die Kunst-Geschichte des Mediums eine gewisse Konstanz behalten, solange sie an Prämissen wie der Kategorie der Autorschaft festhält: ein Bild wird nur dank seiner Zuschreibung an ein Subjekt überliefert werden. Ansonsten wird es, sofern es eine Relevanz besitzt, einer anderen Geschichte zugeschrieben werden – was auch nicht schlimm, aber nicht unser Thema wäre.
Wolfgang Kemp, Geschichte der Fotografie. Von Daguerre bis Gursky, München 2011
Stefan Gronert
…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover